Erziehung und Unterricht 2018/3+4
330 Graß, Raum und Zahl – Zusammenhänge zwischen Raumvorstellung und Arithmetik Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 Diese wissenschaftliche Evidenz kommt bisher hauptsächlich aus der Kognitions- und Neu- ropsychologie, sollte jedoch dringend in der Mathematikdidaktik und damit in der Praxis Einzug halten. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, differenziert über numerisch-räumliche Assoziationen zu berichten und damit eine Vernetzung von Arithmetik und Geometrie im Unterricht anzuregen. Motiviert wird diese Vernetzung über die Schulung der Raumvor- stellung, welche bekanntlich eine zentrale Rolle im Geometrieunterricht der Grundschule spielt. Wie der vorliegende Artikel zeigt, scheint Raumvorstellung nämlich für grundlegen- des numerisches, sogenanntes basisnumerisches Wissen von Bedeutung zu sein. Für ein besseres Verständnis dieser Zusammenhänge werden zu Beginn des Beitrags Grundlagen der Zahlenverarbeitung referiert, um die anschließenden Ausführungen kon- kreter Zusammenhänge zwischen Raum und Zahl leichter verständlich zu machen. Ab- schließend werden die Inhalte zusammengefasst und deren Relevanz für die Unterrichts- praxis diskutiert. Grundlagen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens Zahlen erscheinen uns als eine Entität, als ein abstraktes Gedankenkonstrukt. Mit Zahlen zu operieren, also Rechnungen kompetent auszuführen, verlangt hochkomplexe kognitive Vorgänge in unserem Gehirn. Um Einblick in diese kognitiven Prozesse zu gewinnen, wird im Folgenden das populärste Modell zur Zahlenverarbeitung vorgestellt. Das Triple-Code-Modell von Dehaene (1992) enthält drei unterschiedliche Repräsentati- onsformen von Zahlen und Mengen, die als „Codes“ bezeichnet werden und bei kompeten- ten Rechnerinnen und Rechnern miteinander interagieren. Die visuelle Zahlenform (Code 1) ist für die Verarbeitung arabischer Zahlen zuständig. Die 10 arabischen Ziffern (0-9) müssen als bedeutungshaltige Symbole erkannt werden. Die verbale Zahlenform (Code 2) verarbeitet gesprochene und geschriebene Zahlwörter. Dieser Code stellt – zumindest bei hörenden Kindern – den ersten Zugang zu Zahlen über die Zahlwortreihe dar. Das darauf aufbauende Zählen bildet gemäß Gallistel und Gelman (1978) sowie Fuson (1988) eine wesentliche Voraussetzung der kindlichen Zahlenverarbei- tungs- und Rechenfertigkeiten und wird dort ausführlich beschrieben. Die semantische Größenrepräsentation (Code 3) ist schließlich bei all jenen Zahlenverarbeitungs- und Re- chenprozessen involviert, wo auf die Numerosität von Mengen oder Zahlen zugegriffen wird. In anderen Worten repräsentiert dieses Modul das Wissen um die numerische Größe bzw. Mächtigkeit einer Menge oder Zahl. Dieser Code wird in der numerischen Kognitions- literatur auch als „mentaler Zahlenstrahl“ bezeichnet und besagt, dass in der mentalen Vorstellung Zahlen analog und in unserem Kulturkreis von links nach rechts linear ange- ordnet sind ( Dehaene 1992; s.a. Dehaene 1999). Diese Repräsentation ermöglicht den Zah- lenvergleich, das Überschlagsrechnen und das Schätzen. Eine theoretische Annahme be- steht darin, dass visuell-räumliche Defizite möglicherweise auch die Ausbildung einer räumlichen Vorstellung von Zahlen längs eines Zahlenstrahls erschweren ( Hubbard et al. 2005; Zorzi et al. 2002 ). Dieser Erklärungsansatz konstatiert einen direkten kausalen Zu- sammenhang zwischen Raumvorstellung und der Verarbeitung von Zahlen. Aus diesem Grund widmet sich der nächste Abschnitt alleine dem mentalen Zahlenstrahl. Neben der Zahlenverarbeitung (Lesen/Schreiben arabischer Zahlen, Vergleichen arabi- scher Zahlen etc.) sind für das Lösen komplexer Rechnungen aber auch Rechenfertigkeiten (Kopfrechnen, schriftliches Rechnen etc.) notwendig ( Landerl & Kaufmann 2013). Diese Re- chenfertigkeiten werden in arithmetisches Faktenwissen, prozedurales arithmetisches Wis- sen und konzeptuelles arithmetisches Wissen unterteilt.
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