Erziehung und Unterricht 2018/3+4
236 Steffek, (Un)ausgesprochen Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 die Reaktionen der Schulklassen auf die behandelten Themen, die Fragen, die bei der an den Vortrag anschließenden Diskussion im Vordergrund standen sowie die Größe der an- wesenden und damit erreichten Schülerschaft. Ergebnis der Besprechung war, dass die begonnene Aktion fortgesetzt werden solle. 15 Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein ganzer Stock an Referentinnen und Referenten. Dazu zählten einerseits Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Hermann Langbein in ganz Ös- terreich für den Referentenvermittlungsdienst zur Zeitgeschichte gewinnen konnte, ande- rerseits Wissenschafterinnen und Wissenschafter, deren Arbeitsschwerpunkt auf der öster- reichischen Zeitgeschichte lag, die die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen an Schulen begleite- ten, teilweise Einleitungen ins Thema hielten und sie bei der Beantwortung von Fragen un- terstützten. Jeweils zu Jahresbeginn und Jahresende wurde eine Referentenbesprechung angesetzt, in der unter anderem diskutiert wurde, wie mit provokativen Fragen und Aussa- gen umgegangen werden soll und kann. Sie dienten ebenfalls dem Erfahrungsaustausch und der Diskussion neuer Zielsetzungen. Reden wir nicht mehr davon … „Oma weinte. Der kleinen, rundlichen Frau, die da mitten im Saal stand und die älter war als fünf von uns zusammen, liefen einfach die Tränen über die Wangen. Und unvermittelt heul- ten die kaugummikauenden Schüler los, einer nach dem andern, als hätte jemand den ers- ten Stein in einer Dominoreihe umgeschnippt. Am Ende heulten alle gemeinsam mit Rosa Jochmann. Fünfzig Minuten, das war eine Un- terrichtseinheit, und dann erzählte sie doch zwei Stunden lang von Zählappellen, vom Hun- ger der Häftlinge und vom Sadismus der Wärter. Manchmal mit hocherhobenen Händen und geschlossenen Augen stand sie da und redete sich heiser, manchmal in altmodischen Metaphern, bis ihr die Stimme brach. Müde lächelte sie dann in den Applaus, verliebt in ihre Enkel, die sie mit Fragen bestürmten, und wohl auch ein ganz klein wenig stolz auf ihre Wir- kung.“ 16 In Österreich beginnt die pädagogische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Na- tionalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust – anders als in Deutschland – erst in der 4. Klasse Unterstufe, also im Alter von 13 bis 15 Jahren. Die Oral-History-Bewegung verfolgte zunächst die Absicht, aus den erzählten Lebens- geschichten positive Identifikationsangebote zu entwickeln, aus denen ein gemeinsames Gedächtnis rekonstruiert werden sollte. Demzufolge sind Zeitzeugengespräche ein wichti- ger Zugang zur Zeitgeschichte, da sie letztendlich das Unbeschreibbare beschreib- und vermittelbar machen. Sie sind eine Ergänzung, dienen als Impuls für die Vermittlung von Zeitgeschichte, da ihnen seitens der Schülerschaft erhöhte Aufmerksamkeit entgegen ge- bracht wird und eröffnen den Schülerinnen und Schülern eine neue Erfahrungswelt. Zu ih- ren zentralen Zielen zählen die Demokratie- und Friedenserziehung sowie die Sensibilisie- rung für Menschenrechte und Toleranz. Darin liegt ihre Stärke. Auf der Täterseite ist die Bereitschaft zu erzählen bis heute gering. Dennoch darf sie nicht aus dem Diskurs ausgeschlossen werden, denn „eine Antwort auf die Frage, wieso ei- gentlich die Morde geschehen konnten, lässt sich nicht aus dem Leiden der Verfolgten able- sen, sondern nur in der Auseinandersetzung mit den Motiven und den Formen der Zeug- nisse der Täter einkreisen.“ 17 In den Unterricht werden letztere meist in Form von Doku- mentationen, Filmen und/oder Auszügen aus Lebenserinnerungen eingebracht. So vielfältig die Lebensgeschichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind, so unter- schiedlich sind die Gründe, warum sie immer wieder an Schulen, die Universität, zu Ge-
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