Erziehung und Unterricht 2018/3+4
226 Unterwurzacher, „GastarbeiterInnen“ (1961–1973) Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 betrug dieser Anteil bereits 8,7 % (226.384 Menschen; vgl. Butschek & Walterskirchen 1974: S. 225). 1973 waren 78,5 % der ausländischen Arbeitskräfte aus Jugoslawien (vgl. ebd., S. 215). Wege nach Österreich Die Gründe, welche die Menschen dazu bewogen haben, das eigene Land zu verlassen, wa- ren vielfältig: Arbeitslosigkeit, Armut, fehlenden Bildungs- und Berufsperspektiven und der Wunsch nach materieller Sicherheit waren für viele MigrantInnen wesentliche Motive, um in ein neues Land aufzubrechen. Hinzu kamen andere Gründe, wie etwa Abenteuerlust und Neugier: Als junge Menschen, die sie waren, wollten sie etwas erleben und die Welt sehen. Auch politsche Gründe dürften durchaus eine Rolle gespielt haben, warum Menschen sich nach Westeuropa aufgemacht haben. Es gab mehrere Möglichkeiten nach Österreich zu kommen. Eine davon war der offi- zielle Weg über die von der Bundeswirtschaftskammer eingerichtete „Arbeitsgemeinschaft für die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte“ (AGA), die in den Vertragsländern Anwer- bekommissionen betrieb. Die von den regionalen Arbeitsmarktbehörden vorgemerkten Arbeitskräfte wurden auf Grundlage der Anwerbewünsche österreichischer Firmen in die Länderkommissionen zum Vorsprechen eingeladen und dort entsprechend selektiert. Die Kommissionen organisierten darüber hinaus die Reise nach Österreich samt den dafür notwendigen Papieren (Infektionsfreiheitsschein, polizeiliches Führungszeugnis, Arbeits- Sichtvermerk). Die Unternehmen hatten als Gegenleistung eine pro Kopf berechnete An- werbepauschale zu entrichten (vgl. ausführlicher zum Anwerbeprozedere Lorber 2017, S. 93ff.). Die primäre Funktion der auf diese Weise rekrutierten Menschen als „Arbeitsobjekte“ legt einen Vergleich mit dem Handel mit Waren nahe: „Ausländische Arbeitskräfte wurden in Form von ‚Stückzahlen‘ und ‚Restbeständen‘ gehandelt, ihre einwandfreie ‚Qualität‘ wurde durch gesundheitliche und fachliche Überprüfung sichergestellt und das Eintreffen der Arbeitskräfte bei den Dienststellen musste mittels ‚Übernahmebescheid‘ bestätigt werden.“ ( Lorber 2016, S. 230 auf Grundlage von Bakondy 2010). Im Laufe der Zeit verlor die offizielle Anwerbung zunehmend an Bedeutung. Andere Wege etwa die Selbstanwerbung durch die Betriebe – meist über Vermittlung bereits im Betrieb arbeitender Verwandter und Bekannter – und die Einreise als „TouristInnen“ kamen hinzu. In letzterem Fall reisten Menschen aus der Türkei und vor allem aus Jugoslawien ohne Visum als „TouristInnen“ ein und suchten sich vor Ort Arbeitsplätze. Waren sie bei der Arbeitsplatzsuche erfolgreich, so konnten sich ihre Arbeitgeber nach dem Arbeitsantritt um Visum und Beschäftigungsbewilligung kümmern. Allerdings liefen „TouristInnen“ da- durch Gefahr, von ihren Arbeitgebern „illegal“ beschäftigt zu werden mit den entsprechen- den negativen Konsequenzen (niedrige Entlohnung, keine sozialen Rechte). In den 1970er Jahren dürfte das Ausmaß eines solchen undokumentierten Arbeitssektors an die 40.000 Personen betragen haben (vgl. Matuschek 1985, S. 176). Wurde ein solcher Verstoß gegen die Ausländerverordnung aufgedeckt, so trugen die undokumentierten Arbeitskräfte das volle Risiko und wurden mehrheitlich abgeschoben, während es gegen die Unternehmen kaum Sanktionen gab (vgl. ebd., S. 177). Die Arbeitswelten der „GastarbeiterInnen“ Viele der „GastarbeiterInnen”, die in den Jahren von 1961 bis 1973 in Österreich einreisten, standen bereits einen Tag nach ihrer Ankunft auf der Baustelle oder in der Fabrik. Aus der Türkei kamen anfangs hauptsächlich junge Männer nach Österreich. Erst ab 1969 wurden
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