Erziehung und Unterricht 2018/3+4

Schreiber, Kindheit und Jugend in der Krise 207 Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 schimmelten und völlig überbelegten Räumen, Baracken und Flüchtlingslagern wohnen. Ein Drittel der österreichischen Kinder hatte kein eigenes Bett. Die Notunterkünfte waren Anfang der 1950er Jahre immer noch in einem katastrophalen Zustand. So wohnte etwa eine Mutter mit ihrem lungenkranken Sohn in einem einzigen Raum, weshalb der Arzt ver- ordnet hatte, bei offenem Fenster zu schlafen: „Doch da springen die Ratten über die Bet- ten. Also müssen die Fenster zubleiben!“ Die Wohnungsämter waren heillos überfordert, verzweifelte Mütter wussten nicht, wohin mit ihren Kindern. Eine Frau legte ihren zehn Monate alten Buben auf den Schreibtisch und lief davon, als der Beamte in den Akten kramte. ( Schreiber/Vyslozil 2001, S. 10). Weibliche Jugendliche versorgten ihre hungernden Familien durch Überlebensprostitution, die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten stieg steil an, ebenso die Jugendkriminalität. Da die Mütter außer Haus arbeiten mussten – un- zählige Väter waren gefallen, in Kriegsgefangenschaft, beschäftigungslos, nach jahrelan- gem Kriegseinsatz vielfach traumatisiert, oft auch brutalisiert –, blieben viele Kinder sich selbst überlassen und „organisierten“ das Lebensnotwendige. Sie stahlen, um sich und die Familie zu versorgen. Prozesse der Ausgrenzung Behörden, Wissenschaft und Rechtsgelehrte sahen einen Erziehungsnotstand und beklag- ten sogenannte „Straßenkindheiten“, das „Herumstreunen und Herumlungern“ der Heran- wachsenden. Der öffentliche Diskurs schuf den Topos der „verwahrlosten Jugend“ der unte- ren Klassen, die Eigentum nicht respektiere, „arbeitsscheu dem Schleichhandel ergeben und auch sonst vollkommen asozial eingestellt“ sei und sich zu kriminellen Banden zu- sammenschließe. Schuld waren in dieser Sichtweise die berufstätigen, alleinerziehenden und geschiedenen Mütter. Im Krieg und inmitten der sozialen Not der Nachkriegszeit wa- ren unterschiedliche Lebensformen entstanden, meist mutterzentriert und vaterlos, die vom bürgerlichen Leitbild der Kleinfamilie abwichen und abgewertet wurden. Unverheira- tete Frauen galten als „Mangelexistenz“, sogenannte „unvollständige Familien“ als Verstoß gegen die „natürliche Ordnung“, als eine defizitäre Konstellation, in der Schäden für das Kind aufgrund des „Kontroll-Lochs“ durch den abwesenden Vater befürchtet wurden. Eine große Zahl der Kinder dieser unterprivilegierten Familien litt an einem Integrationsdefizit bei Arbeit und Wohnen, in der Erziehung und Kultur. Dieses Defizit machte sie sozial ver- wundbar und bedrohte sie mit gesellschaftlichem Ausschluss. Als „Bodensatz“ der Gesell- schaft waren diese Kinder und Jugendlichen zu überwachen, zu disziplinieren und zu ver- walten. In einem arbeitsteiligen Prozess griffen aufeinander abgestimmt Fürsorge, Ge- richte, Medizin und Kinderpsychiatrie, Pädagogik und Schule in die in bitterer Armut le- benden Familien ein. Hauptziel war es, die Kinder dieser „gefährlichen Klassen“ zu „brauch- baren Mitgliedern“ der Gesellschaft zu machen. Integration durch Ausschluss war der Weg: Die „Verwahrlosten“ sollten eine Zeit lang in Institutionen der Fürsorge- und Heim- erziehung weggesperrt werden, um ihnen dort Renitenz und Unangepasstheit, Faulheit, Triebhaftigkeit und kriminelle Neigungen auszutreiben ( Schreiber 2015, S. 101-105; Schreiber 2014, S. 36). In den Kinder- und Erziehungsheimen erlebten die Kinder und Jugendlichen von den 1940er Jahren bis in die 1970er Jahre systematische Menschenrechtsverletzungen. Die allumfassende Gewalt, der sie ausgesetzt waren, beeinträchtigt sie ihr Leben lang. Walter Müller erinnert sich: „Zurückblickend in die damalige Zeit ist fast nichts erhalten geblieben, was angenehme Erinnerungen auslösen könnte. Ein Bild, gemalt in tiefem Grau, kalt umrahmt und irgendwie endlos. Endlos traurig, endlos bitter und endlos hoffnungslos.

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