Erziehung und Unterricht 2018/3+4

206 Schreiber, Kindheit und Jugend in der Krise Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 Handlungsnormen einer Generation: ideologieabgewandt, funktionstüchtig und aufstiegsorientiert Nach dem Zusammenbruch war die Flakhelfer-Generation orientierungslos, dies meint Mangelzustände von Vaterlosigkeit, Sprachlosigkeit und Geschichtslosigkeit. Die „letzten Helden des Führers“ empfanden ihren Idealismus entwertet und sich von einem ideologi- schen System für dessen militärische Zwecke missbraucht. Sie wandten sich von politisch- ideologischen Angeboten ab und konzentrierten sich auf Ausbildung, Berufskarriere und Familiengründung. Den sozialen Aufstieg, Lebenssicherheit und die Befriedigung von per- sönlichen Interessen im privaten Glück zog sie dem Anspruch auf Weltverbesserung vor. Die Flakhelfer-Generation schloss sich dem Schweigen ihrer Väter über die Erfahrungen im Nationalsozialismus und Krieg an. Ihre inneren Nöte, ihre Unsicherheit und Haltlosigkeit kompensierte sie durch Funktionstüchtigkeit im Wiederaufbau und Anpassung an die Er- wartungshaltung der Erwachsenengesellschaft. Viele Väter waren vermisst, gefallen oder in Kriegsgefangenschaft. Wenn sie heimkehrten, trafen sie auf eine enge Mutter-Sohn-Ge- meinschaft, auf Söhne, die früh selbständig geworden waren – im Kriegseinsatz und als Miternährer der Familie in der ersten Nachkriegszeit. Die Väter störten diese Gemeinschaft, doch die Söhne lehnten sich nicht auf. Gerade weil die Väter keine Identifikationsfiguren mehr waren, an denen man sich abarbeiten konnte. Sie waren entwertet und schuldig: Das Trümmerfeld, das der Nationalsozialismus hinterließ, war ihr Werk. Mit dem Vater stritt man nicht, er war zu schwach und rang selbst mit seinem eigenen Überleben. Die Flakhel- fer-Generation, die bereits in der HJ Wettbewerbsorientierung, Leistungswille und Durch- schlagskraft erlernt hatten, war mit ihrer Fokussierung auf Pragmatismus, Selbstbehaup- tung, Erwerbsarbeit und Familie, also mit ihrer Einpassung in die gesellschaftlichen Ver- hältnisse nach 1945, sehr erfolgreich. Erst ihre Kinder waren es, die schließlich in der Stu- dentenbewegung aufbegehrten: gegen die Väter, das Schweigen und die Reduktion der Lebensperspektive auf Kleinfamilie, Eigenheim und sozialen Aufstieg ( Bude 1987, S. 43-69). Heimkindheiten – Familien in Not Viele Kinder und Jugendliche, die nicht wie die Mehrheit der Flakhelfer-Generation aus bür- gerlichen Haushalten stammten, befanden sich in der Nachkriegszeit in einer dramati- schen Situation. Die Zahl jener, die unehelich zur Welt gekommen, Halb- oder Vollwaisen waren bzw. in einer vaterlosen Familie lebten, hatte enorm zugenommen. Nahrungsmit- telmangel, Hungererfahrung, Wohnungsnot, Energieengpass, Flüchtlingselend, unzählige Kriegstote, Vermisste und Invalide waren das Erbe der NS-Diktatur. Das Land befand sich in einem Zustand der Verarmung, am meisten litten die Kinder der unteren Schichten. Eine Untersuchung bei über 9.000 Innsbrucker Schulkindern ergab, dass fast die Hälfte unter- ernährt war, bei den Lehrlingen waren es beinahe zwei Drittel. Ein Zeitzeuge berichtete über die Ernährungslage: „Bettelnde Kinder schlichen wie hungrige Katzen um die ameri- kanischen Feldküchen, um Essensreste, die für sie unbekannte Leckerbissen waren, zu er- haschen.“ ( Schreiber/Vyslozil 2001, S. 8f). CARE-Pakete aus den USA mit Nahrung, Kleidung und Medikamenten linderten ab 1946 die Not, ebenso Hilfslieferungen aus zahlreichen Staaten wie England, Irland, Frankreich, der Schweiz, Holland, Belgien, Schweden oder auch Argentinien. Rund 35.000 unterernährte österreichische Kinder konnten in die Schweiz auf Erholung fahren, nicht wenigen dieser „Schweizer Kinder“ ermöglichte der Aufenthalt das Überleben. Besonders drückend war die Wohnungsnot in den Städten, die vom Bombenkrieg ver- wüstet waren. Zehntausende Menschen mussten in Österreich jahrelang in feuchten, ver-

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