Erziehung und Unterricht 2018/3+4
Schreiber, Kindheit und Jugend in der Krise 205 Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 tanzten den Swing. Die „Schlurfs“ waren lässig und cool, sie standen im Gegensatz zum Ideal des zackigen, kurzgeschorenen Hitlerjungen, der nach deutscher Blasmusik, Partei- lieder trällernd, in Kolonnen marschierte, strammstand, nicht rauchte, seinen Körper dis- ziplinierte und allzeit seine Pflicht erfüllte ( Gerbel/Mejstrik/Sieder 1988). Die „letzten Helden des Führers“ Die Erziehung in der Schule und in der HJ zu Pflichterfüllung, Gehorsam und Selbstaufopfe- rung für die Gemeinschaft setzte im Krieg bei vielen Jugendlichen Begeisterung frei und bekräftigte ihren Idealismus: Nun ging es um Leben oder Tod Deutschlands, um das totale Engagement für „Führer“ und Vaterland. Nun kam es auf die Jugend drauf an. Was folgte, war der unmittelbare Kriegseinsatz der HJ. „Ich verspreche als Luftwaffenhelfer allzeit meine Pflicht zu tun, treu und gehorsam, tapfer und einsatzbereit zu sein, wie es sich für einen Hitlerjungen geziemt.“ So lautete der Eid, den Jugendliche schworen, die ab 1943 zum Kriegshilfsdienst an der Flak einberufen wurden, um die Heimat gegen Luftangriffe alliierter Bomberverbände zu verteidigen ( Horwath/Schreiber 1996, S. 27). Zuerst waren es Schüler der Höheren Schulen und von Hauptschulen, die über die 4. Schulstufe weiterfüh- rende Klassen hatten, dann auch Berufsschüler und berufstätige Jugendliche der Jahr- gänge 1926 bis 1930, vereinzelt sogar jünger. Diese bei Kriegsende 15- bis 19-Jährigen erleb- ten historisch einzigartige Erfahrungszusammenhänge, ihr Leben war von gemeinsamen Kollektivereignissen geprägt, sodass sie gleichartige Lebenshaltungen, Lebensgefühle und Handlungsnormen entwickelten. Zu dieser Flakhelfer-Generation, die zwischen 1943 und 1945 den Hauptanteil des Behelfspersonals der Flugabwehr stellte, zählen auch Jugendli- che, die zu Einheiten des „Volkssturms“, dem letzten Aufgebot Nazideutschlands, einberu- fen wurden ( Bude 1987, 33-39). Die Mehrheit der Luftwaffenhelfer war froh, der Schule zu entrinnen, und stolz, ihren Mann stellen zu können: „Ich sah mich (...) als Verteidiger des südlichen Luftraumes gegen den alliierten Luftterror“, erinnert sich ein ehemaliger Luft- waffenhelfer ( Horwath/Schreiber 1996, S. 24). Die Jugendlichen waren in ihren Stellungen militärischem Drill unterworfen, doch sie machten auch Kompetenzerfahrungen, die kom- pensatorisch wirkten. Sie fühlten sich aufgrund ihrer Bildung der Stammbelegschaft intel- lektuell überlegen und beherrschten das Waffensystem meist besser. Der vorgesehene Un- terricht mit 18 Wochenstunden fand nur unregelmäßig statt, Schule geriet zur Nebensache, die Anweisungen der Lehrer befolgten die Flakhelfer immer weniger. Sie trugen zwar die Fliegeruniform der HJ oder eine HJ-Armbinde, identifizierten sich aber nicht mehr mit ihr. „Wir waren reine Flaksoldaten“, ist eine typische Aussage und bezeugt ihr Selbstverständ- nis. Der Kriegseinsatz selbst rief widersprüchliche Empfindungen hervor: Angst – „Über uns dröhnten die feindlichen Bomber, neben uns blitzten und donnerten die Geschütze. Ich glaubte, die Welt geht unter“ –, konzentrierte Entschlossenheit und Selbstbewusstsein: „Meine Gefühle, und wie ich weiß, auch die meiner engeren Freunde: voller Einsatz, genaue Einstellung des Geschützes. Hoffen, daß wir gut treffen und die feindlichen Flieger herun- terholen.“ ( Horwath/Schreiber 1996, S. 41, 50). Das Erleben des Todes von Kameraden min- derte die romantische Begeisterung. Gegen Kriegsende zogen Hitlerjungen in den „End- kampf“, wurden die 16-/17-Jährigen in Kampfeinheiten des Reichsarbeitsdienstes, in den „Volkssturm“ und in die reguläre Wehrmacht eingezogen. Viele kamen ums Leben, ein gro- ßer Teil der ehemaligen Luftwaffenhelfer geriet in Kriegsgefangenschaft.
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