Erziehung und Unterricht 2018/3+4
204 Schreiber, Kindheit und Jugend in der Krise Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 mich furchtbar nach meiner Mutter. Ich liebe sie sehr und vermisse ihre Liebe. Aber wenn ich weinen möchte, hält mich etwas zurück, weil sie nicht will, dass ich traurig bin.“ ( Krist/Lichtblau 2017, S. 255). Einsatz für Flüchtlinge Die Schicksale der Kinder in ihrer neuen Heimat waren unterschiedlich, je nach Alter, dem Ort, wohin sie kamen, und den Familien, bei denen sie Unterschlupf fanden. Die wichtigste Frage war, ob die Eltern und Geschwister überlebten oder nicht. Nahezu allen Kindern und Jugendlichen gemeinsam ist die Dankbarkeit ihrem neuen Heimatland gegenüber, das sie in der Not als Flüchtlinge aufgenommen hat und ihnen ein neues Leben ermöglichte. Im erwachsenen Alter leitete Dorli Pasch in London ein Altersheim für deutsche und österrei- chische Flüchtlinge: „Dort habe ich gefühlt, ich tu was Gutes. Ich habe mir immer selber gesagt, das könnten meine Eltern hier sein.“ 4 Die Flakhelfer-Generation Für viele Buben und Burschen war die Hitlerjugend (HJ) attraktiv: Sie lernten schießen, Mo- torrad fahren, Segelflieger zu basteln oder sogar in einem Segelflugzeug zu fliegen; sie sangen und feierten in Wehrertüchtigungs-, Ski- und Sommerlagern, erfreuten sich der La- gerfeuerromantik und gingen auf Fahrten nach Deutschland. In der HJ war immer etwas los, Sport, Wettkampf und Lager sorgten für ein Gemeinschaftserlebnis. Der Nationalsozia- lismus sprach die Jugendlichen über das Gefühl an, nicht über den Kopf. Eine Uniform zu tragen, das HJ-Fahrtenmesser überreicht zu bekommen und in der Gruppe zu marschieren, vermittelte Stärke. Ab 1940 verwandelt sich die HJ in eine Kriegshilfsdienstorganisation. Die Jugendlichen sammelten Altmaterial, Kleidung, Beeren und Heilkräuter, halfen bei der Ern- teeinbringung, arbeiteten bei Bahn, Post, Feuerwehr und in Wirtschaftsbetrieben bis zum Umfallen – und viele waren begeistert. Einerseits weil die Schule immer unwichtiger war, andererseits weil sie öffentlich gelobt wurden und ihre Tätigkeiten als heldenhafter Ein- satz für den „Endsieg“ galt. So konnten sie sich als Erwachsene fühlen. Die Veröffentli- chung von Sammelergebnissen in Zeitungen und die Präsentation der Leistungen in Aus- stellungen und in der Gemeinde spornte an und stärkte das Selbstwertgefühl ( Schreiber 1996, S. 184-2014). Aufbegehren gegen die Werte der HJ Allerdings verlor die Staatsjugend im Krieg zunehmend ihren vormaligen Bewegungscha- rakter, Routine, Erstarrung und Disziplinierung griffen um sich. „Wir sind etwa 110 Jungen und haben 15 Ausbildner, welche einen den ganzen Tag sekkieren. Heute müssen wir die Stube mit Wasser putzen. Der Lagerleiter ist ein Trottel, wie es keinen größeren gibt!“, schrieb ein Teilnehmer eines HJ-Wehrertüchtigungslagers an seine Eltern. ( Schreiber 1996, S. 193). Als Drill, Zwang und Arbeitsdienste sich ausweiteten, stieg auch die Zahl der jungen Menschen, die die HJ ablehnten. Jugendliche, die selbst entscheiden wollten, wie sie ihre Freizeit verbrachten, welche Bücher sie lasen, welche Musik sie hörten oder wie lang sie ihr Haar trugen, gerieten in Konflikt mit dem NS-System. In Städten, besonders in Wien, schlossen sich Arbeiterjugendliche in Gruppen zusammen. Diese „Schlurfs“, wie sie oft ab- schätzig genannt wurden, verweigerten sich dem Ideal soldatischer Männlichkeit. Sie klei- deten sich modisch elegant, strichen sich Pomade ins Haar, das bis oberhalb des Hemd- kragens reichte, schwärmten für Hollywood-Filme, die verfemte „Negermusik“ Jazz und
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