Erziehung und Unterricht 2018/3+4
Schreiber, Kindheit und Jugend in der Krise 203 Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 gewöhnliche Entscheidung, unser Kind wegzugeben“. 1 Jessy Winkler (in Israel Jehudith Hübner) hätte mit ihrer kleinen Schwester Edith von Wien nach England ausreisen können, doch ihre Mutter schätzte die Situation falsch ein. Kurz vor der Abreise wachte Edith in der Nacht mit großem Bauchweh auf und wandte sich an ihre Schwester Jessy: „‚(...) ich hab Angst, wenn wir in England sein werden, und ich werde Bauchweh haben, wird niemand sein. Sag nix der Mama‘. Aber ich hab mir gedacht, was mach ich jetzt? Ich hab sie ins Bett genommen und hab mir gedacht, ich muss das der Mama sagen. Daraufhin ist meine Mut- ter in den nächsten Tag in die Kultusgemeinde gegangen und hat uns beide (...) ausgestri- chen.“ Edith überlebte die NS-Zeit nicht, Jessy Winkler litt ihr Leben lang an einem Schuld- gefühl. 2 Ermordet in Auschwitz Selbst wenn die Flucht aus Österreich gelang, war das Überleben noch keineswegs ge- sichert. Wer sich in jene Länder rettete, welche die deutsche Wehrmacht nach Ausbruch des Krieges besetzte, lief erneut Gefahr, in die Tötungsmaschinerie zu geraten. Ilse Brüll erreichte in einem Kindertransport im April 1939 die holländische Stadt Rotterdam, wo sie in Quarantäne die Wartenden mit Singen und Jodeln in Tiroler Tracht unterhielt. Drei Jahre später holte die SS sie im Kloster Eersel bei Eindhoven ab, wo sie bis dahin untergebracht war. Ihrer Freundin konnte sie noch einen Brief schreiben: „Mein liebes Truderl, werde Dir wohl lange nimmer schreiben können, da ich weggehe von Eersel. Sende Dir ein kleines Foto als Andenken von mir. Ich bin wohl nicht arg gut drauf, aber es wird Dich trotzdem freuen. ‚Auf Wiedersehen‘ mit innigsten Busserln sendet Dir Deine Ilse.“ ( Schreiber 2008, S. 122f). Die SS deportierte Ilse Brüll am 31. August 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz, wo sie drei Tage später im Alter von 17 Jahren ermordet wurde. Abfahrt und Ankunft Immer wenn sich Dorli Pasch (in England Dorli Neale) an jenen Tag im Dezember 1938 er- innerte, an dem sie die Heimat und die Eltern verließ, musste sie weinen. Die Bilder der Ab- reise waren in ihrem Gedächtnis festgefroren. Sie sah vor sich, wie die Eltern sie umarm- ten, wie sie in den Zug einstieg, sich die Türen schlossen und der Zug langsam abfuhr. Doch für die damals 15-Jährige war die Reise auch ein Abenteuer; Abschiedsschmerz mischte sich mit jugendlichem Stolz, wie eine Erwachsene alleine ins Ausland zu fahren ( Schreiber 2008, S. 282f). Norbert Abeles hat einen anderen Weg gewählt, mit seinem Schmerz umzugehen. Er sperrte seine Gefühle beim Abschied von der Mutter ab, um sich zu schützen. Nüchtern erzählt er: „Eine letzte Umarmung und dann weiter. Ich hab ganz genau gewusst, ich sehe sie nimmer wieder. Keine Tränen.“ ( Krist/Lichtblau 2017, S. 272). Für die Kleinen war die Trennung von den Eltern unverständlich, nicht selten fühlten sie sich deshalb wie verstoßen. Trauer empfanden alle. Hans und Felix Heimer berichten von der inneren Not, auf sich alleine gestellt in der Fremde zu sein: „Wie wir in Schweden wa- ren, der, der Gesang ‚Wien, Wien nur du allein‘ ist immer in unserm Kopf rumgekommen. (...) Heimweh ist sehr schwer. (...) Es, es nimmt einen herunter, das Gemüt, wenn man, wenn man Heimweh hat. Und wie ich vorher gesagt hab, wir sind erzogen worden als Liebhaber von Wien und von Österreich.“ 3 Dorli Pasch betonte stets, dass sie eine der Glücklichen war, die ihre Eltern wieder- sahen. Vielen Kindern war diese Freude nicht beschieden, so wie Inga, deren Mutter in Minsk ermordet wurde. Als sie sich im Jänner 1942 ihrem Tagebuch anvertraute, wusste sie nicht, dass ihre Mutter zwei Monate zuvor bereits ums Leben gekommen war: „Ich sehne
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