Erziehung und Unterricht 2018/3+4

202 Schreiber, Kindheit und Jugend in der Krise Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 Horst Schreiber Kindheit und Jugend in der Krise Summary: Der Nationalsozialismus griff in die Lebensbiografien junger Menschen ein: Er verfolgte Kinder jüdischer Abstammung und erzog die „deutsche“ Jugend zum Krieg, sein Zusammenbruch hinterließ unbeschreibliches Elend, in dem vielfach traumatisierte Kinder aufwachsen mussten. Der folgende Beitrag nähert sich den Problemlagen jener kleinen Zahl jüdischer Kinder an, die überlebten, weil sie in einem Kindertransport ausreisen konnten. Er analysiert den missbräuchlichen Einsatz Minderjähriger im Krieg und die Aufsteigermentalität der Flakhelfer-Generation als Erbe der NS-Sozialisation. Kinder und Jugendliche der unteren Klassen verfügten nicht über die Ressourcen der Mittelschicht. Ihr von der bürgerlichen Norm abweichendes Verhalten inmitten von Hunger, Wohnungsnot und Armut veranlasste die Behörden nach 1945, sie in großer Zahl in Heime einzuweisen, wo sie mit Gewalt gebrochen wurden. Kindertransporte In der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 zerstörten die Nationalsozialisten Ge- schäfte und zündeten Synagogen an, sie verprügelten und ermordeten Juden, schließlich nahmen sie Massenverhaftungen vor. Von diesem Zeitpunkt an war der jüdischen Bevölke- rung in Österreich bewusst, in welcher Gefahr sie schwebte; nun hieß es, nichts wie weg aus der Heimat, wo man des Lebens nicht mehr sicher war. Doch die meisten Staaten nahmen nur eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen auf. Schließlich erklärte sich die briti- sche Regierung bereit, unter Einhaltung einer Quote jüdische Kinder einreisen zu lassen. Zwischen Dezember 1938 und Kriegsbeginn im September 1939 erreichten rund 9.000 österreichische, deutsche, tschechische und polnische Kinder und Jugendliche bis zu einem Alter von 17 Jahren in sogenannten Kindertransporten Großbritannien, aber auch Holland, Belgien, Frankreich und Schweden, in kleiner Zahl Australien und die Schweiz ( Kumar 2016, S. 161; Krist/Lichtblau 2017, S. 253). Die Israelitische Kultusgemeinde Wien organisierte die Verschickung von Kindern mit jüdischer Religion, die Quäker, eine überwiegend christliche Gruppe, und eine Organisation in Wien mit dem Namen „Aktion Gildemeester“, die vermö- gende Juden beraubte, sorgten für die Transporte von nicht-religiösen Kindern, die von den rassistischen NS-Gesetzen als jüdisch eingestuft worden waren, ins Ausland. Gehen oder bleiben? Die Eltern versuchten, ihre Kinder zu retten, doch ihre Gefühle waren widersprüchlich, wie Charlotte Levy anmerkt. Elisabeth, die noch ein Baby war, wollte sie nicht weggeben, „denn was würde mit ihr passieren?“ Ihren Sohn Hans auf Kindertransport schicken zu können, empfand sie „wie ein Licht im Dunkel“ – und dennoch war sie verzweifelt. Worüber sollte man glücklich sein, fragte sie sich: „Darüber, seinen kleinen, neunjährigen Jungen in ein fremdes Land zu schicken, dessen Sprache er nicht spricht, zu Leuten, die man nicht per- sönlich kennt, und die Ungewissheit, ob man ihn jemals wieder sieht? Es war eine außer-

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