Volkswirtschaft gestalten, Schulbuch

232 Szenario 2: Geschlossenes Kerneuropa Im geschlossenen Kerneuropa besteht unter den Mitglied- staaten kein Konsens hinsicht- lich der künftigen Entwick- lung der Europäischen Union. Eine Gruppe von Mitglied- staaten entschließt sich zu ei- ner Zusammenarbeit außer- halb der EU-Verträge. Zu unterschiedlich sind die europapolitischen Vorstellun- gen über den weiteren Integ- rationsweg. Der strategische Gedanke einer großen, födera- tiven politischen Union geht verloren. Die mangelnde Fä- higkeit der EU, den Folgen der Erweiterung und den Erfor- dernissen einer neuen weltpo- litischen Ordnung gerecht zu werden, fördert die Enttäu- schung der Bürger/innen über das Projekt Europa. Politische Parteien gehen mit europakri- tischen Parolen erfolgreich auf Stimmenfang. Die Vorteile des Binnenmark- tes, die gemeinsame Währung sowie der grenzenlose Reise- verkehr werden aber weiter- hin geschätzt. Doch machtbe- wusste Realpolitiker/innen scheuen weitere Integrations- schritte. Ambitionierte Uni- onsprojekte nach dem Vorbild des Euro (z. B. Sozialunion) werden nicht angegangen. Nach dem Scheitern einer ge- meinsamen Vorgehensweise entschließt sich eine kleine Gruppe von Staaten, ihre Zu- sammenarbeit im zwischen- staatlichen Rahmen zu vertie- fen. Das außerhalb des Vertragsrahmens operierende Kerneuropa sieht darin den einzig realistischen Weg, ge- meinsame Interessen weltweit zu vertreten. Die außen- und sicherheitspo- litische Geschlossenheit im Kern soll die weltwirtschaftli- che Position Europas flankie- ren und das interne System gegenüber externen Einflüs- sen stabilisieren.Vor allem die engen Bindungen einiger EU- Randstaaten zu anderen inter- nationalen Akteuren erschwe- ren die autonome und gemein- schaftliche Organisation von Sicherheit und Verteidigung und damit letztendlich die Ei- genständigkeit Europas. Die strategischen und inhaltlichen Grundlinien im Kerneuropa werden von den mächtigsten Mitgliedstaaten bestimmt. Aus einer anfänglich informellen Koordinierung der Staats- und Regierungschefs in Krisenzei- ten sind feste, dem Pragmatis- mus verpflichtete Konsulta- tions- und Kooperationsforen geworden. Die operativ-organisatorische Abstimmung zwischen den Staaten Kerneuropas wird von einem Koordinationssekretari- at außerhalb der traditionel- len EU-Strukturen organisiert. Supranationale Institutionen wie die Kommission oder der Europäische Gerichtshof spie- len hierbei keine Rolle. Demo- kratische Legitimation bezieht diese auf funktionale Effizienz ausgerichtete Kooperation über die nationalen Parlamen- te der beteiligten Staaten und nicht über das Europaparla- ment. Karikatur: JeanVeenenbos Quelle: Der Standard, 12. 12. 2000 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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