Volkswirtschaft gestalten, Schulbuch

135 Arbeitsmarkt & Sozialpolitik Das Ende des Sozialstaats? Unser Sozialstaat befindet sich schon seit Jahren „im Umbau“, um „moderner“ und „leistungsfähiger“ zu werden. Dieses Ziel verfol- gen Sozialpolitiker/innen seit mehr als einem Jahrhundert – wenn auch aus sehr unter- schiedlichen Motiven und mit verschiedenen Ergebnissen. Sozialstaat wozu? Angesichts der miserablen Le- bensbedingungen der Arbei- ter/innen organisierten sich in der 2. Hälfte des 19. Jahr- hunderts Arbeiter/innen in Vereinen, Gewerkschaften und Parteien. Gemeinsam kämpf- ten sie für bessere Arbeits- bedingungen, höhere Löhne und letztlich für ein anderes, gerechteres Gesellschaftssys- tem. Die zunehmende Macht der Arbeiter/innenbewegung zwang die Herrschenden dazu, die Lebenssituation der arbei- tenden Massen zu verbessern. 1881 wurde in Deutschland ein „Sozialversicherungssys- tem“ geschaffen. Damit sollte auch Arbeitern und Arbeite- rinnen, die krank, invalide oder altersschwach waren, ein Einkommen verschafft werden, mit dem sie sich ir- gendwie am Leben erhalten konnten. Andere europäische Länder folgten diesemVorbild. In der November-Revolution 1918 wurde in Österreich die Republik ausgerufen. Die „So- zialdemokratische Arbeiter- Partei“ übernahm die Führung der Regierung. In weniger als zwei Jahren schuf die Regie- rung eine Reihe von Gesetzen, mit denen die Lage der Arbei- ter/innen verbessert werden sollte: neben dem 8-Stunden- Tag, der Einführung des be- zahlten Urlaubs und der Ein- richtung derArbeiterkammern sollte dazu eine staatlich orga- nisierte Arbeitslosenversiche- rung dienen. Von der „sozialen Fürsorge“ zum Sozialstaat Der sozialpolitische Anspruch nach dem 2. Weltkrieg war ein anderer: Der Staat sollte nicht nur ein sehr beschei- denes Einkommen sichern, der Staat sollte vielmehr zu einem Wohlfahrtsstaat entwi- ckelt werden, der sich aktiv um das Wohlergehen seiner Bevölkerung zu kümmern habe. Dem Staat wurde die Verantwortung übertragen, allen Menschen den Zugang zu Arbeit und Bildung, zur Gesundheits- und Altersver- sorgung zu gewährleisten. Zur Finanzierung wurden einer- seits Steuern angehoben, an- dererseits die Sozialversiche- rungsbeiträge erhöht. Mit dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates verknüpften viele Menschen die Hoffnung, auch innerhalb des kapitalistischen Systems die sozialen Ungerechtigkei- ten abzubauen. In den ersten dreißig Nachkriegsjahren ge- lang es auch tatsächlich, in den meisten Industriestaaten den Sozialstaat auszubauen und die soziale Lage der ar- beitenden Menschen massiv zu verbessern. Lebenserwar- tung und Lebensstandard stiegen Jahr für Jahr an. Er- möglicht wurde das einerseits durch die relativ große Stärke der Gewerkschaftsbewegung und andererseits durch die gute wirtschaftliche Entwick- lung, die den Unternehmen Zugeständnisse leichter fallen ließen. Wohlfahrtsstaat in Österreich In Österreich erfuhr derWohl- fahrtsstaat in den 1970er Jah- ren eine beachtliche Auswei- tung. Staatliche Leistungen wie die Kinderbeihilfen, das Karenzgeld, die Heirats- und Geburtenbeihilfe wurden ausgebaut, Schulgeld und Studiengebühren wurden ab- geschafft. Kostenlose Schul- bücher und die Schüler/in- nenfreifahrt und der Ausbau des Bildungswesens – in zehn Jahren wurde die Zahl der höheren Schulen in Öster- reich verdoppelt – sollten al- len Kindern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft den freien Zugang zur Bildung er- möglichen. Neoliberalismus – Offensive gegen den Sozialstaat Anfang der Siebziger wurde die Weltwirtschaft erstmals seit Jahrzehnten wieder von einer Krise gebeutelt. Nach fast drei Jahrzehnten des so- zialen Konsenses attackierten die Unternehmer/innenver- bände immer heftiger den So- zialstaat, der die Profitinteres- sen derWirtschaft zunehmend störte. Die neue Ideologie: der Neoliberalismus. Nach neoliberaler Lehrmeinung ist der Staat prinzipiell ein Hemmnis der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Sozialstaat „verweichliche“ die Men- schen und würde das Lohnni- veau zum Schaden der Wirt- schaft hochtreiben. Staatliche Monopole, ob bei den Eisen- bahnen, im Bildungssystem, bei der Kranken- und Pensi- onsversicherung sollten ge- gen den „freien Wettbewerb“ eingetauscht werden, um die „Effizienz“ zu erhöhen. Diese Forderungen fanden Eingang in zahlreiche Regierungspro- gramme. Immer mehr gelingt es derWirtschaft, ihre Interes- sen als „Interessen der Allge- meinheit“ zu verkaufen und den Abbau sozialer Rechte unter dem schönfärberischen Titel „Umbau des Sozialstaa- tes“ durchzuführen. Neoliberalismus aktuell Staatliche Verantwortung für Bildung und soziale Sicherheit ist heute auch in Österreich keine Selbstverständlichkeit mehr. Durch Studiengebüh- ren, Schulautonomie und Vollrechtsfähigkeit versucht sich die Regierung der Verant- wortung für die Finanzierung von Bildung und Wissenschaft zu entziehen. Mit Ambulanz- gebühren und Selbstbehalten wird Kranksein zur Privatsa- che gemacht, auch bei den Pen- sionen wird die „private Eigen- vorsorge“ eingefordert statt des Sozialprinzips. Arbeitneh- Nur zu Pr fzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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