Österreichisches Wörterbuch. Schulausgabe (44. Auflage), Arbeitsheft

52 Das ÖWB literarisch | Mit literarischen Texten arbeiten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, dass er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer auch schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Zimmer war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. Quelle: Ilse Aichinger: „Das Fenstertheater“. In: Ilse Aichinger: Der Gefesselte. Erzählungen. Frankfurt/M.: S. Fischer 1963, S.61ff. Ilse Aichinger (1921–2016) war eine österreichische Schriftstellerin von Essays, Kurzgeschichten und Romanen. Aichinger war Teil der Gruppe 47 um Hans Werner Richter und Mitglied der Schriftstellervereinigung P.E.N. Sie gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der österreichischen Nachkriegszeit. Nicholas Ofczarek als Titus Feuerfuchs, Theater Reichenau 2004 Titus Feuerfuchs aus Nestroys „Talisman“ ist wütend und enttäuscht, dass ihn sein Umfeld aufgrund seiner roten Haare verspottet und ausgrenzt. Nur seine Suche nach Arbeit hält ihn noch hier. Er macht seinem Ärger in folgendem Monolog Luft. 3 $ Johann Nepomuk Nestroy: Der Talisman (1. Akt, 7. Szene) Titus Ich bin entwaffnet! Der Mensch hat so etwas Dezidiertes in seiner Grobheit, daß es einem rein die Red’ verschlagt. Recht freundlich, recht liebreich kommt man mir entgegen! In mir organisiert sich aber auch schon Misanthropisches – ja – ich hass’ dich, du inhumane Menschheit, ich will dich fliehen, eine Einöde nehme mich auf, ganz eseliert1 will ich sein! – Halt, kühner Geist, solcher Entschluß ziemt dem Gesättigten, der Hungrige führt ihn nicht aus. Nein, Menschheit, du sollst mich nicht verlieren. Appetit is das zarte Band, welches mich mit der verkettet, welches mich alle Tag’ drei-, viermal mahnt, daß ich mich der Gesellschaft nicht entreißen darf. […] 1 eseliert: eine Wortschöpfung aus Esel und isoliert Quelle: www.projekt-gutenberg.org/nestroy/talisman Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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