Lasso Lesebuch 4, Schulbuch [Lesespaß]

43 Geheimnisvoll 2 Eine unheimliche Totenmesse in St. Stephan Die Chronik 1 berichtet von einer unheimlichen Totenmesse im Stephansdom im Jahr 1363: Der Pfarrer von St. Stephan saß in der Silvesternacht noch lange auf, um an seiner Neujahrspredigt zu schreiben. Da hörte er plötzlich ein Raunen und Gemurmel, als kämen irgendwo viele Leute zusammen, und dann Gesang, der wie ein Rauschen von Flügeln war, und ein leises Brausen wie gedämpftes Orgelspiel. Dem Pfarrer war, als käme die seltsame Musik vom Dom her, und er trat ans Fenster des Pfarrhauses und blickte hinüber. Da war der Dom hell erleuchtet, und die Musik klang nun so laut, als ziehe dort einer alle Register der Orgel. „Was ist das?“, dachte der Pfarrer. Er warf einen Umhang über, denn es war kalt draußen, nahm den Schlüssel vom Kirchentor und eilte über den Friedhof auf den Dom zu. Da war ihm plötzlich, als griffen Hände nach ihm. Er blieb stehen und schaute sich um, aber die Toten lagen still in ihren Gräbern, nur der Schnee darauf glitzerte wie lebendig. Aber das kam wohl von dem Geflacker der Kerzenflammen hinter den Fenstern des Doms. Als der Pfarrer dann vor das Tor kam und es aufsperren wollte, standen die Torflügel weit offen. Der Schein unzähliger Kerzen fiel ihm entgegen. Die Kirche war voller Menschen, und vorne am Altar stand ein weißhaariger Priester mit dem Rücken zur Gemeinde und betete. Der Pfarrer von St. Stephan trat leise ein. Es war nun ganz still, die Orgel und die Menschen schwiegen wie Tote. Der Pfarrer erkannte den und jenen aus seiner Gemeinde, und wie er so suchend umherblickte, erkannte er nach und nach, dass fast alle ihm anvertrauten Seelen hier versammelt waren. 1 Eine Chronik ist ein geschichtlicher Text, in dem die Ereignisse in zeitlich genauer Reihenfolge aufgezeichnet sind. 5 10 15 20 25 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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