Zeitbilder 4, Arbeitsheft
24 Zu den Schulbuchseiten 50 bis 53 Die Puppe (...) Dann erzählte Sarah, dass sie viel- leicht schon bald fortgehen würden. „Mama und Papa reden dauernd da- von“, sagte sie. Irgendwohin wollen sie gehen, wo es im Sommer und imWinter warm war. „Ich möchte in ein Land gehen, wo es Affen gibt“, sagte Sarah. „Ich auch“, sagte ich. „Darfst du aber nicht“, sagte Sarah, „du bist kein Jude.“ Ich wollte nicht, dass sie fortging, und ich sagte es ihr auch. „Ich will, dass wir uns hier oben treffen, jeden Tag, und wir spielen, und ich bekomme dafür zehnmal die Masern. Einverstanden?“ „Ich weiß nicht“, sagte sie zögernd. Wir sahen sie schon von weitem. Es waren vier Buben, alle größer als ich. Sie trugen Lederhosen mit Gürteln und Steinschleudern, und sie machten wichtige Gesichter, wie man sie macht, wenn man hinter wichtigen Dingen her ist, hinter Schlangen oder hinter Heuschrecken oder hinter Schnecken oder Feuersalamandern. Als sie uns sa- hen, blieben sie zögernd stehen, sie schauten uns nicht an, weil Jungen niemals jemanden anschau- en, wenn ein Mädchen dabei ist. Zwei von ihnen kannte ich, flüchtig. „Hallo“, sagte ich. Sie schwie- gen, sie blickten zu Boden, sie kickten Steine in die Luft, und sie kratzten mit den Füßen Furchen in den staubigen Weg. „Der spielt mit Puppen“, sagte dann der größte. „Der spielt mit Mädchen“, sag- te ein anderer. „Der spielt mit einem Judenmäd- chen“, sagte der größte. Sie standen jetzt still, und ihre Gesichter waren angespannt. Und dann brüll- ten sie: „Judenmädchen, Judenmädchen“, und das Brüllen wurde immer lauter und immer wilder. Sarah kannte das Geschrei. In letzter Zeit riefen ihr Kinder auf der Straße das Wort nach oder Schimpf- wörter. „Ich glaube, wir gehen“, sagte Sarah ru- hig. Ich hätte die Buben ohrfeigen wollen, ich hätte sie gern den Berg hinuntergerempelt, ich hätte sie gern mit den Köpfen zusammengestoßen. Doch sie waren größer als ich, und sie waren stärker als ich. Und sie hatten Steinschleudern. Also gingen wir, Sarah und ich. Wir gingen dicht nebeneinander, und ich weiß noch, wie ich ihren mageren Körper spürte und wie warm dieser Körper war. Und ob- wohl ich sie nicht ansah, weil ich nur daran dachte, dass ich ein Feigling war, spürte ich, wie sie tapfer lächelte. Wir mussten an den Burschen vorbei, und sie stellten Sarah ein Bein. Sie stolperte und fiel hart auf den Boden. Da lag sie, und jetzt begann sie leise zu weinen. Eine Puppe hatte sie noch im Arm, die andere lag im Staub – ich weiß nicht, ob es Ma- ria oder Elvira war. Auf diese Puppe stürzte sich einer von den vieren, und sie fingen an, sich die Puppe wie einen Ball zuzuwerfen, sie immer höher zu werfen, immer höher. Sarah schrie und weinte und lief zwischen ihnen hin und her, um die Puppe anzufangen. Da packten sie die Puppe – ein Fet- zen Stoff mit einem lächelnden Kopf darauf –, einer von ihnen hatte einen neuen Dolch am Gürtel, mit dem heftete er die Puppe an den Kreuzbalken. Sie lachten über diesen Spaß und über die entsetzte Sarah und brüllten jetzt: „Judensau. Judensau.“ Sarah und ihre Eltern konnten nicht mehr fortge- hen in ein anderes Land. Eine Woche später wur- de die Familie Blauenstein gegen Abend abgeholt. Die Eltern, Sarah und ihre Schwester, ein kleines Mädchen, dessen Name ich vergessen habe. Sie hatten nur wenige Stunden Zeit, um zu packen, nur ein paar Koffer durften sie mitnehmen. Ich stand auf und fragte, wohin sie gingen, aber nie- mand gab Antwort, auch meine Eltern nicht. Das Gesicht ihres Vaters war grau und eingefallen. Die Mutter betete. Und Sarah konnte ihren Koffer nicht zubekommen, so sehr wir auch darauf knieten. Sie sagte immer nur, vielleicht dürfe sie zu den Affen, in ein Land, in dem es Sommer und Winter warm war. Als sie zum Lastwagen ging, war ihr Koffer noch immer offen. Und ich konnte die ganze Zeit nichts anderes denken als: Der Koffer wird aufge- hen, bestimmt verliert sie ihren Koffer und alles, was sie liebt, sogar die Puppe. Maria oder Elvira. Später habe ich erfahren, dass die Familie Blauen- stein in einem Lager getötet worden war. (Winfried Bruckner, Die Puppe. In: Damals war ich vierzehn, 1998) Analysiere die Erzählung. Nenne die im Text vorkommenden Personen, ihr Verhalten und ihre Einstellung zueinander. Erkläre, welche Bedeutung der Puppe in diesem Text zukommt. Arbeite heraus, welche Pläne die Familie Blauenstein hatte und welches schreckliche Ende die Familie erleiden musste. Erläutere den politischen Hintergrund dieses Schicksals. Arbeite nach M1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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