Zeitbilder 3, Arbeitsheft
54 Gefährten Im Jahr 1914 rüstet sich Europa zum großen Krieg. Wie viele andere Tiere wird das Pferd Joey an die Armee verkauft. Es muss den heimatlichen Hof in England und seinen Freund, den Bauernsohn Albert, verlassen, um mit den Soldaten an die französische Westfront zu ziehen. Dort wird Joey Zeuge grausamer Kämpfe, findet aber in all der Trostlosigkeit auch Hoffnung und Fairness, sei es von englischer, französischer oder deutscher Seite. Im folgenden Ausschnitt berichtet Joey von der ersten Schlacht, die er miterlebt. Und dann, in einer eiskalten Nacht An- fang Februar, der Raureif lag noch auf unseren Rücken, kamen die Kavalleri- sten unerwartet früh zu den Pferden. Es war vor Morgengrauen. In dieser Nacht hatte die schwere Artillerie unablässig gefeuert. Im La- ger herrschte ungewöhnliche Hektik und Aufre- gung. Dies war keine der Routineübungen, an die wir uns schon gewöhnt hatten. Die Kavalleristen kamen in voller Montur zu uns, mit jeweils zwei Patronengurten, mit Provianttasche und Gasmas- kenbüchse, Gewehr und Säbel. Wir wurden gesat- telt und leise aus dem Lager hinaus auf die Straße geführt. Die Soldaten sprachen von der kommen- den Schlacht, und alle Enttäuschung und der ganze Ärger darüber, dass wir zum Nichtstun gezwungen gewesen waren, verschwand, als sie in den Sät- teln zu singen anfingen. Auch mein Reiter Warren schmetterte aus voller Kehle mit. Im kalten Grau der Nacht stieß die Schwadron in den Trümmern eines kleinen zerstörten Dorfes, das nur von Kat- zen bevölkert war, zum Regiment, und dort war- teten wir eine Stunde, bis das fahle Licht der Mor- gendämmerung über den Horizont kroch. Noch immer brüllten die Kanonen zornig und der Boden erzitterte unter uns. Wir kamen an den Feldlaza- retten und an den leichten Geschützen vorbei, und dann stiegen wir über die Versorgungsgräben und sahen zum ersten Mal das Schlachtfeld. Rundum herrschten Elend und Zerstörung. Nicht ein einzi- ges Gebäude war heil geblieben. Kein Grashalm wuchs mehr in dem aufgerissenen und zerwühlten Boden. Der Gesang um mich herum verstummte, und wir zogen tiefer hinein in die unheilvolle Stille und über die Gräben, in denen sich die Männer, die Bajonette an die Gewehre geschnallt, dicht an- einanderdrängten. Gelegentlich rief uns jemand aufmunternd zu, wenn wir auf den Planken über die Gräben trotteten, in die Einöde des Niemands- landes, in diese Einöde aus Stacheldraht und Gra- nattrichtern und dem schrecklichen Unrat des Krie- ges. Plötzlich hörten die Kanonen auf, über unsere Köpfe hinwegzufeuern. Wir waren nun jenseits des Stacheldrahtverhaus. Die Schwadron schwärmte in einer breiten, unregelmäßigen Staffel aus und das Horn ertönte. Ich spürte, wie die Sporen mir in die Flanken bissen, und schloss zu Topthorn auf. Dann trabten wir los. „Mach mir Ehre, Joey“, sagte Kavallerist Warren und zog seinen Säbel. „Mach mir Ehre.“ Nur wenige Augenblicke rückten wir im Trab vor, wie wir es in der Ausbildung gelernt hatten. In der unheimlichen Stille des Niemandslandes war nichts zu hören außer dem Klirren des Geschirrs und dem Schnauben der Pferde. Wir suchten uns einen Weg um die Krater herum und hielten unse- re Angriffslinie, so gut es ging. Vor uns, auf einem sanft ansteigenden Hügel, waren die zerschosse- nen Überreste eines Waldes zu sehen und knapp darunter eine monströse rostige Spirale aus Sta- cheldraht, die sich, so weit das Auge reichte, über den Horizont erstreckte. „Stacheldraht“, hörte ich Reiter Warren mit zusam- mengebissenen Zähnen flüstern. „Mein Gott, Joey, man hat uns gesagt, der wär nicht mehr da, die Kanonen hätten den Draht zerschossen. O mein Gott.“ Wir ritten jetzt in kurzem Galopp und noch immer war von einem Feind nichts zu hören und nichts zu sehen. Die Reiter brüllten dem unsichtbaren Geg- ner zu und schmiegten sich, die Säbel nach vorne gestreckt, an die Hälse der Pferde. Ich fiel in einen schnelleren Galopp, um mit Topthorn gleichauf zu bleiben, und in diesem Moment schlugen die er- sten furchtbaren Granaten zwischen uns ein und die Maschinengewehre begannen zu feuern. Das Getümmel der Schlacht hatte begonnen. Rund um mich wurde gebrüllt, Männer stürzten zu Boden, Pferde bäumten sich auf und schrien vor Angst und Schmerz in ihrem Todeskampf. Rechts und links von mir brach die Erde auf und schleuderte Pfer- de und Reiter regelrecht in die Luft. Über unseren Köpfen heulten und donnerten die Granaten, jede Explosion kam uns wie ein Erdbeben vor. Aber die Schwadron galoppierte unerbittlich weiter auf den Stacheldrahtverhau unterhalb der Hügelkuppe zu, und ich mit ihr. Kavallerist Warren hielt mich mit eisernen Knien im Griff. Einmal strauchelte ich und spürte, wie er ei- nen Steigbügel verlor, und ich bremste meinen Ga- Zu den Schulbuchseiten 124 bis 127 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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