Vielfach Deutsch 4, Begleitband für Lehrerinnen und Lehrer mit Audio-CD

41 text Transkription der Hörtexte Spaghetti à la Napolitaine. Tommy saß da wie ein Ölgötze. „Moment mal …Was soll denn das? Bildet die sich wo- möglich ein, dass ich ihr den zweiten Gang auch noch spendiere?“ Tommy schnappte sich hastig seinen Rucksack. Bloß weg von hier, bevor sie mich zur Kasse bittet. Er wollte die Flucht ergreifen, als er sah, wie das Mädchen ihr Portemonnaie aus der Tasche zog. Jetzt stand sie vor der Kasse und wahrhaf- tig … sie bezahlte! „Verrückt“, dachte Tommy. „Total gesponnen!“ Da kam die Schwarze zurück. Sie trug behutsam das Tablett, auf dem ein großer Teller Spaghetti stand, mit Tomaten- sauce, vier Fleischbällchen und geriebenem Käse. Daneben lagen zwei Gabeln. Immer noch stumm, setzte sie sich Tommy gegenüber, schob den Teller in die Mitte des Tisches, nahm eine Gabel und begann zu essen, wobei sie Tommy ausdruckslos in die Augen sah. Tommy verstand die Welt nicht mehr. Heiliger Strohsack! Sie forderte ihn tatsächlich auf, die Spaghetti mit ihr zu teilen. Seine Gedanken überstürzten sich. Was nun? Sollte er essen? Nicht essen? Wenn das Mädchen doch endlich reden würde! „Na gut“, dachte Tommy. „Sie aß die Hälfte meiner Suppe, jetzt esse ich die Hälfte ihrer Spaghetti, dann sind wir quitt!“ Verlegen griff er nach der Gabel, rollte die Spaghetti auf und steckte sie in den Mund. Schweigen. Beide ver- schlangen die Spaghetti. „Eigentlich nett von ihr, dass sie mir eine Gabel brachte“, dachte Tommy. „Da komme ich noch zu einem guten Essen, dass ich mir heute nicht geleistet hätte. Aber was soll ich ihr sagen? Danke? Das wäre doch wirklich saublöde! Und einen Vorwurf machen kann ich ihr auch nicht mehr. Vielleicht hat sie gar nicht ge- merkt, dass sie meine Suppe aß. Oder vielleicht ist es üblich in Afrika, sich das Essen zu teilen? Schmecken übrigens gut, die Spaghetti! Das Fleisch auch. Wenn ich nur nicht so schwitzen würde!“ Die Portion war sehr reichlich. Bald hatte Tommy keinen Hunger mehr. Der Schwarzen ging es ebenso. Sie legte die Gabel aufs Tablett und putzte sich mit der Serviette den Mund. Sie hatte recht hübsche, schlanke Finger mit silbernen Ringen. Tommy räusperte sich und scharrte mit den Füßen. Das Mädchen lehnte sich zurück, schob die Daumen in die Jeanstaschen und sah ihn an. Undurchdringlich. „Wenn ich nur wüsste, was in ihr vorgeht“, dachte Tommy. Verwirrt und nervös ließ er seine Blicke umherwandern. Und plötzlich spürte er ein Kribbeln im Nacken. Ein Schauer jagte ihm über den Rücken, von den Ohren bis runter zum Popo! Denn auf dem Nebentisch, an den sich bisher niemand gesetzt hatte, stand – einsam auf einem Tablett – ein Teller kalter Gemüsesuppe. Tommy erlebte den peinlichsten Augenblick seines Lebens. Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen. Es vergingen zehn volle Sekunden, bis er es endlich wagte, dem Mädchen ins Gesicht zu sehen. Die saß da, völlig ent- spannt und cooler, als Tommy es je sein würde, und wippte leicht mit dem Stuhl hin und her. „Ah …“, stammelte Tommy. „Entschuldige bitte. Ich meine … ich glaube …“ Er sah die Pupillen der Schwarzen aufblitzen, sah den Schalk in ihren Augen schimmern. Auf einmal warf sie den Kopf zurück, brach in fröhliches, unbefangenes Gelächter aus. Sie lachte wie ein Wasserfall. Zuerst brachte Tommy nur ein verschämtes Glucksen zustande, bis endlich der Bann gebrochen war und er aus vollem Halse in das Gelächter des Mädchens einstimmen konnte. Eine Weile saßen sie da, von Lachen geschüttelt. Dann stand das Mädchen auf, nahm ihren Rucksack und warf ihn über die Schulter. „Ich heiße Marceline“, sagte sie im besten Deutsch „Und du?“ „Tommy. Aber eigentlich heiße ich Thomas.“ „Tommy gefällt mir besser“, sagte das Mädchen. „Ich esse jeden Tag hier. Sehe ich dich morgen wieder? Um die gleiche Zeit?“ Tommy schnappte nach Luft. „In Ordnung! Aber dann spendiere ich die Spaghetti.“ „Und ich die Suppe.“ Immer noch lachend, winkte das Mädchen fröhlich und ging. Mit rotem Kopf starrte Tommy ihr nach. Und merkte plötzlich … dass er sich verliebt hatte. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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