Vielfach Deutsch 4, Begleitband für Lehrerinnen und Lehrer mit Audio-CD

40 text Transkription der Hörtexte 1 1 + 2 + 4 | Kapitel 3 | Arbeitsheft Frederica de Cesco: Spaghetti für zwei © Federica de Cesco: Spaghetti für zwei. 2018. Tommy war bald vierzehn und fühlte sich sehr cool. Auf dem Pausenplatz war er vorlaut, auf dem Fußballfeld gefürch- tet. Aber im Unterricht machte er gerne auf Verweigerung. Die Lehrer sollten bloß nicht auf den Gedanken kommen, dass er sich anstrengte. Jetzt war er mieser Laune, denn er wollte dringend neue Sneakers, die schönen von Puma. Aber die Eltern sagten: „Die alten sind noch gut. Willst du neue haben, sieh zu, wie du das Geld sparst.“ Das passte Tommy nicht in den Kram. Denn er mochte Monika, die Blonde mit den langen Haaren aus der Parallelklasse. Aber sie fand ihn doof. Mit den neuen Sneakers, dachte er, würde er ihr bestimmt besser gefallen. Mittags konnte er nicht nach Hause, weil der eine Bus zu früh, der andere zu spät abfuhr. So aß er im Selbstbedie- nungsrestaurant gleich gegenüber der Schule. Es gab ja kein anderes. Jetzt hätte er gerne das Geld für die Sneakers gespart, aber verflixt, er hatte Hunger! Mit finsterer Miene, einen Kaugummi im Mund, stapfte er die Treppe zum Restaurant hinauf. Hier trafen sich außer jede Menge Schüler auch Arbeiter aus der nahen Möbelfabrik, Hausfrauen mit Einkaufstaschen und kleine Kinder, die alle Cola tranken, Unmengen von Pommes verzehrten und die Tische mit fettigen Fingerabdrücken verschmierten. „Italienische Gemüsesuppe“ war auf der Tafel über der Theke zu lesen. Warum nicht? Tommy nahm ein Tablett und stellte sich an. Ein mürrisches Fräulein schöpfte die Suppe aus einem dampfenden Topf. Tommy nickte zufrieden. Der Teller war randvoll. Eine Schnitte Brot dazu, und er würde bestimmt satt. Er setzte sich an einen freien Tisch, nahm seinen Kaugummi aus dem Mund klebte ihn unter den Stuhl. Da merkte er, dass er den Löffel vergessen hatte. Tommy stand auf und holte sich einen. Als er zu seinem Tisch zurückschlurfte, traute er seinen Augen nicht: Da saß doch ein schwarzes Mädchen und aß seelenruhig seine Gemüsesuppe! Tommy stand mit seinem Löffel in der Hand fassungslos da, bis ihn die Wut packte. Die kam irgendwo aus Ouagadougou, wollte sich in der Schweiz breitmachen und nun fiel ihr nichts Besseres ein, als ausgerechnet seine Gemüsesuppe zu verzehren! Schon möglich, dass so was den afrikanischen Sitten entsprach, aber hierzulande war das eine glatte Unverschämtheit! Tommy öffnete den Mund, um ihr lautstark seine Meinung zu sagen, als ihm auffiel, dass man ihn komisch anstarrte. Tommy wurde rot. Er wollte keine Szene machen, um Gottes willen nicht hier, wo eine Menge Leute seine Eltern kannten. Ja, aber was nun? Plötzlich hatte er eine Idee. Er räusperte sich vernehmlich, zog geräuschvoll den Stuhl gegenüber der Schwarzen zurück und setzte sich. Diese blickte ihn kurz an, und schlürfte ungestört die Suppe weiter. Tommy presste die Zähne zusammen, dass seine Kinnbacken schmerzten. Dann packte er energisch den Löffel, beugte sich weit über den Tisch und tauchte ihn in die Suppe. Das schwarze Mädchen hob abermals den Kopf. Beide starrten sich an. Tommy bemühte sich, die Augen nicht zu senken. Er führte mit leicht zitternder Hand den Löffel zum Mund und tauchte ihn zum zweiten Mal in die Suppe. Ihren vollen Löffel in der Hand, fuhr das Mädchen fort, ihn stumm zu betrachten. Dann blickte sie wieder auf ihren Teller und aß weiter. Eine Weile verging. Beide teilten sich die Suppe, ohne dass ein Wort fiel. Tommy versuchte nachzudenken. „Vielleicht hat die Schwarze kein Geld, war mit einem dieser überfüllten Boote über das Meer gekom- men, musste schon tagelang hungern. Dann sah sie die Suppe dastehen und bediente sich einfach. Schon möglich, wer weiß? Vielleicht würde ich mit leerem Magen ähnlich reagieren? Und Deutsch kann sie anscheinend auch nicht, sonst würde sie ja nicht dasitzen wie ein Klotz. Ist doch peinlich. Ich an ihrer Stelle würde mich schämen. Ob Schwarze wohl rot werden können?“ Das leichte Klirren des Löffels, den das Mädchen in den leeren Teller legte, riss Tommy aus seinen Gedanken. Das Mädchen hatte sich zurückgelehnt und sah ihn an. Tommy konnte sich nicht vorstellen, was sie dachte. In seiner Verwirrung lehnte er sich ebenfalls zurück. Er schwitzte, und sein Pulli juckte auf der Haut. Er versuchte, das Mäd- chen abzuschätzen. „Ungefähr so alt wie ich und eigentlich ganz hübsch. Nicht zu dick, nicht zu dünn. Kaffeebraune Haut, lange Wimpern und Lachgrübchen in den Wangen. Dazu eine lustige Frisur. Sie sah eigentlich ganz normal aus. Immerhin, sie hatte seine halbe Suppe aufgegessen und sagte nicht einmal danke! Menschenskind, ich habe ja noch Hunger!“ Das Mädchen stand auf. Tommy blieb der Mund offen. „Haut sie tatsächlich ab? Jetzt ist aber das Maß voll! So eine Frechheit! Die könnte mir wenigstens die halbe Gemüsesuppe bezahlen!“ Er sah zu, wie sich das Mädchen mit einem Tablett in der Hand wieder anstellte und einen Tagesteller bestellte: À 8 Ó Hörtext sb9m44 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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