Vielfach Deutsch 4, Leseheft

Prinzipien. Ich gebe zu, Gewissensentscheidungen sind kompliziert, aber sie sind auch möglich. Die Richter und unsere Verfassung sehen den Wert des Lebens als unendlich groß an. Wenn das so ist, dann kann zwischen Leben und Leben nicht abgewogen werden – ein- fach, weil man zu unendlich nichts hinzuzählen kann. Ein Leben ist dann so viel wert wie 100 000 Leben. Schon diese Grundidee scheint mir zweifelhaft und dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen. Und es gab immer wieder Gerichte, die entschieden, dass es dem Recht entspreche, das sogenannte kleinere Übel vorzuziehen. 1841 sank das Schiff „William Brown“, nachdem es einen Eisberg gerammt hatte. Die Rettungsboote konnten nicht alle Überlebenden tragen, sie wären gesun- ken, und niemand hätte überlebt. Alexander Holmes, ein einfacher Matro- se, warf 14 oder 16 – so genau wurde das nie ermittelt – Menschen über Board. Nach der Rückkehr nach Philadelphia wurde Holmes für seine Tat vor Gericht gestellt. Das Gericht verurteilte ihn zwar, aber die Strafe fiel sehr milde aus. Die Richter erkannten die Notwendigkeit, dass ein kleineres Übel einem größeren vorzuziehen sei. Holmes hatte den größeren Teil der Passagiere gerettet. Meine Damen und Herren Richter, ich gebe zu, dass diese Idee, das kleinere Übel vorzuziehen, eher im englischen und amerikanischen Rechtskreis beheimatet ist. Aber, und darauf kommt es an, sie ist vernünftig. Wir können lange über die Begriffe „Würde des Menschen“ und „Geist der Verfassung“ reden. Aber die Welt ist nun mal kein Seminar für Rechtsstudenten. Tatsächlich sind wir größeren Bedrohungen ausgesetzt als jemals zuvor. Zwar sehen wir die Bilder jeden Tag, aber wir glauben nicht, dass sie gelten. Aber wir werden bedroht, unsere Gesellschaft, unsere Freiheit, unsere Art zu leben. Ihr Ziel haben die Terroristen tausendfach formuliert: Sie wollen uns zerstören. Meine verehrten Damen und Herren Richter, wenn Sie heute Lars Koch verurteilen, wenn Sie also ein zweifelhaftes Verfassungsprinzip über diesen einzelnen Fall stellen, dann sagen Sie damit, dass wir uns gegen Terroristen nicht wehren dürfen. Vielleicht hat die Staatsanwältin recht, vielleicht machen wir die Passagiere damit zu Objekten, und zu vielleicht nehmen wir ihnen damit ihre Würde. Aber wir müssen begreifen, dass wir im Krieg sind. Wir haben es uns nicht ausgesucht, aber wir können es nicht ändern. Und Kriege, auch wenn das heute niemand mehr hören will, gibt es nun einmal nicht ohne Opfer. Ich beantrage daher Freispruch. 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 Aus: Ferdinand von Schirach: Terror. Ein Theaterstück und eine Rede. btb Verlag, München 2016 (gekürzt). Argumente abwägen und Position beziehen 52 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigen um des Verlags öbv

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