Vielfach Deutsch 4, Leseheft

Lies den Ausschnitt aus dem Schlussplädoyer des Verteidigers. Meine Damen und Herren Richter, haben Sie der Staatsanwältin zugehört? Haben Sie verstanden, was sie sagte? Sie will, dass Sie Lars Koch wegen eines Prinzips verurteilen. Wirklich, genau das hat sie gesagt – wegen eines Prinzips sollen Sie ihn lebenslänglich einsperren, wegen eines Prinzips sollen 70 000 Menschen sterben. Es ist mir gleichgültig, wie dieses Prinzip genannt wird – ob es „Verfassung“ heißt oder „Würde des Menschen“ oder ganz anders. Ich kann nur sagen: Gott sei Dank hat sich Lars Koch nicht nach Prinzipien gerichtet, sondern nach dem, was richtig war. Eigentlich könnte mein Plä- doyer hier zu Ende sein. Aber gut, machen wir es wie die Staatsanwältin und denken einen Moment darüber nach, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich nach Prinzipien zu richten. Es war gerade der Immanuel Kant der Staatsanwältin, der über Prinzipien einen kleinen Aufsatz schrieb. [Anmer­ kung: An einer anderen Stelle des Stücks zitiert die Staatsan­ wältin Immanuel Kant, um ihre Argumentation zu stützen.] 1797 war das. „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ hieß der Text. Und wissen Sie, was Kant darin behauptete? Ich will es Ihnen sagen: Ein Mörder mit einer Axt steht vor Ihrer Haustür. Gerade ist Ihr Freund vor diesem in Ihr Haus geflohen. Nun sagt der Mörder, er wolle Ihren Freund umbringen und ob Sie wüssten, wo er sei. Nach Kant, meine Damen und Herren Richter, dürfen Sie in dieser Situation nicht lügen, weil Sie nie lügen dürfen. Sie müssen sagen: „Klar, lieber Mörder, er sitzt dahinten auf dem Sofa und sieht sich gerade die Sportschau an. Viel Spaß noch.“ Das ist kein Witz. Kant verlangt das wirklich. Und die Staatsanwältin verlangt von Ihnen das Gleiche: ein Prinzip über den Einzelfall zu stellen, Prinzipien über das Leben. Prinzipien mögen vernünftig sein und in den meisten Fällen auch richtig. Aber ihnen hier zu folgen – was wäre das für ein Wahnsinn? Ich jedenfalls würde den Mörder immer anlügen, ich ziehe es vor, meine Freunde zu retten. Nun, verehrte Damen und Herren Richter, das aber ist Kernpunkt unseres Verfahrens. Ist es richtig, das Prinzip der Menschenwürde über die Rettung von Menschenleben zu stellen? Denken Sie bitte nach. Lehnen Sie sich einen Moment lang zurück und sehen Sie die Dinge so, wie sie sind. Herr Koch hat 70 000 Menschen gerettet. Dafür musste er 164 Menschen töten. Das ist alles. Ist das scheußlich? Ja, es ist grauenhaft, furchtbar, erschreckend. Aber wäre es anders gegangen? Nein. Lars Koch hat abgewogen, und hat die richtige Entscheidung gefällt. Jeder, der noch einigermaßen bei Verstand ist, kann, muss und wird das einsehen, denn kein Prinzip der Welt kann wichtiger sein, als 70 000 Menschen zu retten. Punkt. Vielleicht fühlen Sie sich jetzt – nach dem Plädoyer der Staatsanwältin – unwohl, wenn Sie nur Ihrem Gewissen folgen und nicht irgendwelchen 10 Immanuel Kant (1724–1804) war ein deutscher Philosoph. Er beschäftigte sich in seinen Werken mit diesen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Bevor das Urteil gefällt wird, bringt die Verteidigung in ihrem Schlusswort noch einmal ihre Argumente vor. Argumente abwägen und Position beziehen 51 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv

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