Vielfach Deutsch 4, Leseheft

stellfall: Auf einer steilen Gebirgsstrecke löst sich ein Güterwagon. Er saust mit voller Wucht ins Tal auf einen kleinen Bahnhof zu. Dort steht gerade ein Personenzug. Rast der Güterwagen so weiter, wird er Hunderte von Menschen töten. Stellen Sie sich nun bitte vor, Sie sind Bahnwärter. Sie haben die Möglichkeit, eine Weiche umzustellen und den Güterwaggon auf ein Nebengleis zu lenken. Das Problem: Auf diesem Nebengleis stehen fünf Arbeiter, die gerade die Schienen reparieren. Wenn Sie den Zug umlenken, töten Sie fünf Arbeiter, retten aber Hunderte Passagiere. Was würden Sie tun? Würden Sie den Tod der fünf in Kauf nehmen? Tatsächlich würden die meisten Menschen den Waggon umleiten. Und auch nach einiger Überlegung halten wir es für richtig, so zu handeln. Aber wenn die Anordnung nur leicht verändert wird, wird es schon viel schwieriger. [ Anmerkung: Die Staatsanwältin nennt nun ein Beispiel, in dem ein Mensch aktiv getötet werden muss, um andere zu retten. ] Plötzlich erscheint es uns nicht mehr möglich, die richtige Entscheidung zu treffen. Verehrte Damen und Herren Richter, wir müssen also akzeptieren, dass es keine Sicherheit in moralischen Fragen gibt. Wir brauchen also etwas Verlässlicheres als unsere spontanen Überzeugungen. Etwas, wonach wir uns jederzeit richten und an dem wir uns festhalten können. Wir brauchen Prinzipien. Diese Prinzipien, verehrte Damen und Herren Richter, haben wir uns gegeben. Es ist unsere Verfassung. Der Staat kann niemals ein Leben gegen ein anderes Leben aufwiegen. Natür- lich, als Lars Koch die Lufthansa-Maschine abschoss, war das Stadion voll. Aber für ihn gilt, was in diesem Prozess die Nebenanklägerin gefragt hat: Hätten die Passagiere den Terro- risten doch noch überwältigen können? Hätten sie die Tür zum Cockpit einschlagen kön- nen? Wir wissen es nicht. Und warum wissen wir es nicht? Weil der Angeklagte sich entschieden hat. Er hat alleine entschieden, dass alle Passagiere sterben müssen. Wenn Sie Lars Koch frei- sprechen, erklären Sie die Würde des Menschen, erklären Sie unsere Verfas- sung für wertlos. Meine Damen und Herren Richter, ich bin mir sicher, dass Sie in dieser Welt nicht leben wollen. Ich beantrage daher, den Angeklagten wegen Mordes in 164 Fällen zu verurteilen. 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 das Prinzip , die Prinzipien : feste, allgemeine Regel; Grundsatz Aus: Ferdinand von Schirach: Terror. Ein Theaterstück und eine Rede. btb Verlag, München 2016 (gekürzt). Argumente abwägen und Position beziehen 49 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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