Vielfach Deutsch 4, Leseheft

Lies den Ausschnitt aus dem Schlussplädoyer der Staatsanwältin. Sie vertritt die Anklage. Hohes Gericht, verehrte Damen und Herren Richter – um es gleich zu sagen: Der Angeklagte ist kein Krimineller. Er hat weder seine Ehefrau noch deren Liebhaber getötet, er hat nicht geraubt, nicht betrogen nicht gestohlen. Im Gegenteil: Lars Koch hat nach bürgerlichen Maßstäben bisher ein tadelloses Leben geführt, er hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Es gibt nicht das Geringste an ihm auszusetzen. Und ich kann sagen, dass mich seine Aufrichtigkeit und der Ernst seiner Überlegungen beein- druckt haben. Alles, was Lars Koch tat, tat er in vollem Bewusstsein, in größter Klarheit. Er war davon überzeugt, dass es das Richtige war. Und er ist es noch. Verehrte Damen und Herren Richter, ja, der Verteidiger hat recht. Es geht in unserem Fall tatsächlich nur um eine Frage: Dürfen wir Unschuldige töten, um andere Unschul- dige zu retten? Und ist es eine Frage der Zahl? Lassen sich Leben zumindest dann gegeneinander rechnen, wenn für den Tod eines Menschen 400 andere gerettet werden können? Spontan würden wir alle vermutlich genau das tun. Es erscheint uns richtig. Vielleicht sind wir uns nicht ganz sicher, und es kostet uns Überwindung. Aber wir wägen ab, wie wir das auch in anderen Bereichen unseres Lebens tun. Wir befragen unser Gewissen. Und dann glauben wir, dass wir vernünftig und fair handeln, nach bestem Wissen und Gewissen. Wir stimmen Lars Koch zu. Damit könnten wir den Prozess beenden und freisprechen. Aber, Sie haben es bereits gehört, die Verfassung verlangt etwas anderes von uns. Die Richter am Bundesverfassungsgericht haben es so formuliert: Leben darf nicht mit Leben aufgewogen werden. Niemals, auch nicht bei großen Zahlen. Das macht stutzig. Und wir sind es dem Angeklagten und den Opfern schuldig, genauer darüber nachzudenken. Nach welchen Kriterien entscheiden wir, ob der Angeklagte töten durfte oder nicht? Eigentlich entscheiden wir nach unserem Gewissen, nach unserer Moral, nach unserem gesunden Menschenver- stand. Es gibt noch andere Begriffe dafür: Der frühere Bundes- verteidigungsminister hat sich auf „übergesetzlichen Notstand“ berufen. Manche Juristen nennen es „Naturrecht“. Die Bezeichnung, meine Damen und Herren Richter, ist aber ganz gleichgültig. Gemeint ist nämlich immer das Gleiche: Wir sollen nach Vorstellungen entscheiden, die über dem Gesetz stehen, die größer sind als das Gesetz, Vorstellungen also, die das Gesetz ersetzen. Die Frage lautet: Ist das vernünftig? Ich weiß, jeder Einzelne von Ihnen glaubt, dass er sich auf seine Moral, auf sein Gewissen verlassen kann. Aber das ist ein Irrtum. 1951 beschrieb der deutsche Rechtsphilosoph Hans Welzel den sogenannten Weichen- 5 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 die Verfassung : gesetzliche Grundordnung eines Staates die Moral : Anständigkeit, Sittlichkeit Argumentationen nachvollziehen Ein Plädoyer ist die Schlussrede der Anklage bzw. der Verteidigung. Darin wird der Sachverhalt zusammengefasst und bewertet, und es werden Schlussfolgerungen gezogen. Anklage und Verteidigung versuchen jeweils die Richterschaft mit Argumenten zu überzeugen. Argumente abwägen und Position beziehen 48 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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