Vielfach Deutsch 3, Leseheft

Lies den Beginn des erfolgreichen Romans „Die Geschichte der Bienen“ von Maja Lunde. tao Bezirk 242, Shirong, Sichuan, 2098 Wie verwachsene Vögel balancierten wir auf unseren Ästen, das Plastikgefäß in der einen Hand, den Feder- pinsel in der anderen. Langsam, so vorsichtig ich konnte, kletterte ich aufwärts. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen im Arbeitsbe- zirk eignete ich mich nicht für diese Aufgabe, ich war nicht zierlich genug, meine Bewegungen waren o zu fahrig, mir fehlte die nötige Feinmotorik. Ich war nicht gescha’en dafür, und trotzdem musste ich jeden Tag hier sein, zwölf Stunden am Stück. Die Bäume waren ein Menschenleben alt, ihre Äste zerbrechlich wie dünnes Glas, sie knackten unter unse- rem Gewicht. Vorsichtig drehte ich mich, um meinem Baum keinen Schaden zuzufügen. Ich stellte mein rechtes Bein auf einen noch höhergelegenen Ast und zog das linke behutsam nach, bis ich endlich eine sichere Arbeitsposition gefunden hatte, unbequem, aber stabil. Von hier aus erreichte ich auch die obersten Blüten. Das kleine Plastikgefäß war gefüllt mit dem lu igen, leichten Gold der Pollen, das zu Beginn des Tages exakt abgewogen und an uns verteilt wurde, jede Arbeiterin erhielt genau die gleiche Menge. Nahezu schwerelos versuchte ich, unsichtbar kleine Mengen zu entnehmen und in den Bäumen zu verteilen. Jede einzelne Blüte sollte mit dem kleinen Pinsel bestäubt werden, der aus eigens zu diesem Zweck erforschten Hühnerfedern hergestellt worden war. Keine künstliche Faser hatte sich als so e’ektiv erwiesen. Das hatte man wieder und wieder getestet, in meinem Bezirk hatte man dafür genügend Zeit gehabt. Hier war diese Tradition nämlich schon über 100 Jahre alt, die Bienen waren bereits in den 1980er Jahren verschwunden, lange vor dem Kollaps. Die P£anzenschutzmittel waren schuld gewesen, und wenige Jahre später, als die Pestizide nicht mehr verwendet wurden, kehrten die Bienen zurück, doch zu diesem Zeitpunkt hatte man bereits mit der Handbe- stäubung begonnen. So erzielte man bessere Ergebnis- se, auch wenn für diese Arbeit unglaublich viele Menschen benötigt wurden, viele, viele Hände. Doch dann, als der Kollaps schließlich kam, hatte mein Bezirk einen Wettbewerbsvorteil. Es hatte sich gewis- 4 Buchtipp Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen. btb, München. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein. 1852: Der englische Biologe William hat eine Idee für einen neuartigen Bienenstock. 2007: Eines Tages sind die Bienen des Imkers George, der im US-ameri- kanischen Ohio lebt, verschwunden. 2098: Die chinesische Arbeiterin bestäubt Bäume händisch, denn Bienen gibt es längst nicht mehr. Maja Lunde und Jostein Gaarder kommen aus Norwegen. Sie schauen in den beiden vorgestell- ten Romanen in die Zukunft und appellieren für einen bewussten Umgang mit unserem Planeten. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 der Kollaps , die Kollapse: Zusammenbruch das Pestizid , die Pestizide: Schädlingsbekämpfungs- mittel, Pflanzenschutz- mittel Reportagen lesen und verstehen 56 6 Nur z Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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