Vielfach Deutsch 1, Leseheft

„Nein“, sagte Dschingis. „Mein kleiner Bruder ist hier in dieser Klasse. Sehen Sie, er sitzt doch neben mir.“ Alle lachten, außer Mrs Spendlove. „Entschuldigung, mein Fehler. Ich meine, er gehört in Miss Hoyles Klasse“, sagte sie und versuchte uns anderen mit Hand­ wedeln zum Schweigen zu bringen, peinlich berührt, weil sie dachte, dass wir ihn auslachten und es ihre Schuld war. Aber ich stand ja genau neben den beiden und merkte, dass der Große sich nicht etwa geirrt hatte. Er schaltete einfach auf stur. „Julie, wärst du so nett, Dschingis’ Bruder in Miss Hoyles Klasse zu bringen?“ Natürlich wäre ich so nett gewesen, zumal ich meinen Platz wiederhaben wollte. Aber kaum hatte ich mich dem Kleinen genähert, da hob der Große seine Hand, mir direkt vors Gesicht, und sagte: „Nein.“ „Wie bitte?“ „Er muss bei mir bleiben. Ich habe die Pflicht, auf ihn aufzupassen. Ihn zu beschützen. Ich muss bei ihm bleiben.“ „Also, so läuft das nicht, Dschingis. Erstens wird Miss Hoyle ihn beschützen, wenn er in ihrer Klasse ist. Und außerdem braucht er doch gar keinen Schutz, weil …“ Mrs Spend­ love klappte ihren Laptop auf und suchte eine Weile herum. „Ah“, sagte sie und wandte sich direkt an den Kleinen. „Du musst in eine andere Klasse gehen, Kub…“ Und sie begann, diesen unglaublichen Namen Silbe für Silbe zu buchstabieren. Aber noch ehe sie bei der dritten Silbe angelangt war, hob Dschingis den Kopf und sagte wieder Nein. „Nein.“ Einfach so. Das war bereits sein zweites Nein zu Mrs Spendlove. Ein Mal könnte man ja noch für ein Versehen halten. Mit dem zweiten stieg man in den Ring. Ganz klar. Vor unseren Augen spielte sich ein Machtkampf ab. Mrs Spendlove machte den ersten Zug. „Wie bitte?“, sagte sie. „Nennen Sie ihn Nergui“, sagte Dschingis. „Das ist einfacher.“ Was ihr gegenüber wirklich eine Frechheit war, weil er Mrs Spendlove Vorschriften machte und ihr außerdem mitteilte, dass es sie überfor­ derte, einen Namen richtig auszusprechen. Mrs Spendlove parierte. „Tja, hier steht aber etwas anderes“, sagte sie und versuchte erneut den langen Namen auszusprechen. Dschingis erhob sich. Sie blickte ihm in die Augen. Er sagte: „Bitte.“ Bitte war gut. Bitte bedeutete in gewisser Weise Rückzug. Auf jeden Fall war Bitte ein Pluspunkt. Sie klappte den Laptop ganz langsam zu. „Na gut“, sagte sie. „Heute darfst du hier in unserer Klasse bleiben, Nergui.“ Dschingis bedankte sich und nahm wieder Platz. Es wirkte wie ein Sieg von Mrs Spendlove. Nur dass dieser Junge exakt seinen Willen durchgesetzt hatte: Sein kleiner Bruder saß neben ihm und wurde mit irgendeinem nicht offiziellen Namen angesprochen. Vielleicht spürte Mrs Spendlove das. Vielleicht war dies der Grund, weshalb sie sich für eine weitere Herausforderung entschied. „Wenn du dann bitte deine Mütze abnehmen würdest, Nergui“, sagte sie. „Damit wir anfangen können.“ Weder der Kleine noch Dschingis rührten sich. Die beiden saßen einfach nur mit diesem Und-was-wenn-nicht?-Gesicht da und taten, als hätten sie nichts verstanden. Mrs Spendlove versuchte es noch mal. „Es tut mir leid, aber du musst deine Mütze abnehmen, Nergui.“ „Nein“, sagte Dschingis. 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 Aus: Frank Cottrell Boyce: Der unvergessene Mantel. Carlsen, Hamburg 2012 (gekürzt). Aus dem Englischen von Salah Naoura. 57 Jugendliteratur lesen und verstehen 6 Nur zu P üfzwecken – Eige tum des Verlags öbv

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