Vielfach Deutsch 4, Schulbuch

„Ich kann doch nicht. Ich muss doch aufpassen“, sagte Jürgen unsicher. „Immerzu?“, fragte der Mann, „nachts auch?“ „Nachts auch. Immerzu. Immer.“ Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. „Seit Sonnabend schon“, flüsterte er. „Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du musst doch essen.“ Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot. Und eine Blechschachtel. „Du rauchst?“, fragte der Mann, „hast du denn eine Pfeife?“ Jürgen fasste seinen Stock fest an und sagte zaghaft: „Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.“ „Schade“, der Mann bückte sich zu seinem Korb, „die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen können. Vor allem die jungen. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst hier ja nicht weg.“ „Nein“, sagte Jürgen traurig, „nein, nein.“ Der Mann nahm den Korb hoch und richtete sich auf. „Na ja, wenn du hierbleiben musst – schade.“ Und er drehte sich um. „Wenn du mich nicht verrätst“, sagte Jürgen da schnell, „es ist wegen den Ratten.“ Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: „Wegen den Ratten?“ „Ja, die essen doch von Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.“ „Wer sagt das?“ „Unser Lehrer.“ „Und du passt nun auf die Ratten auf?“, fragte der Mann. „Auf die doch nicht!“ Und dann sagte er ganz leise: „Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da.“ Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. „Unser Haus kriegte eine Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muss hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner als ich.“ Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: „Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, dass die Ratten nachts schlafen?“ „Nein“, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, „das hat er nicht gesagt.“ „Na“, sagte der Mann, „das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird, schon.“ Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. „Lauter kleine Betten sind das“, dachte er, „alles kleine Betten.“ Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): „Weißt du was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines, oder, was meinst du?“ Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. „Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue.“ „Ich weiß nicht“, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, „wenn sie wirklich nachts schlafen.“ Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. „Natürlich“, sagte er von da, „euer Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.“ Da stand Jürgen auf und fragte: „Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?“ „Ich will mal versuchen“, rief der Mann schon im Weggehen, „aber du musst hier so lange warten. Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt du? Ich muss deinem Vater doch sagen, wie so ein Kanin- chenstall gebaut wird. Denn das müsst ihr ja wissen.“ „Ja“, rief Jürgen, „ich warte. Ich muss ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt.“ Und er rief: „Wir haben auch noch Bretter zu Hause. Kistenbretter“, rief er. Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu. Die war schon rot vom Abend, und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurch schien, so krumm waren sie. Und der Korb schwenkte aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt. Aus: Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Rowohlt, Reinbek 1991. 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 der Sonnabend (nördl. D): Samstag die Kuhle (D) (ugs.): Mulde, Loch der Keller: hier: der Luftschutzkeller, in dem man vor Bomben- angriffen Zuflucht sucht drehen: hier: selbst Zigaretten drehen 60 Inhaltsangabe und Interpretation Sprachbewusstsein Zuhören / Sprechen Schreiben 3 Lesen Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv

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