sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

9 ders gesagt: Auch künstliche Intelligenz hat Schlagseite. Doch die brisante These vom vorur- teilsbeladenen Computer erregte kaum Auf- merksamkeit. Stattdessen schlug Bryson Skepsis entgegen. Wo denn die Beispiele aus dem echten Leben seien, wurde sie immer wieder gefragt – bis zu Macrons Tweet. Seither sind die Kritiker verstummt. „Das ist ein super Beispiel für unsere neueste Forschung über maschinelle Sprachver- arbeitung“, sagt Bryson. Zwei Techniken sind es, die auf dramatische Art und Weise die Fähigkeit von Computern verbes- sert haben, Bilder oder Sprache zu „verstehen“. Maschinenlernen (kurz: ML) nennt sich die eine Technik, die darauf hinausläuft, dass Computer sich selbst etwas beibringen, indem sie in großen Datensätzen nach Mustern suchen. Die zweite hört auf den Namen tiefe neuronale Netze ( deep neural networks , DNN); diese versuchen, die Ar- beitsweise des Gehirns mit seinen vielfältigen Verbindungen in einer Software zu imitieren. Beide Techniken laufen darauf hinaus, dass Computer auf ähnliche Art lernen, wie es ver- mutlich auch Menschen tun. Damit aber, so hat Joanna Bryson zusammen mit der Informatike- rin Aylin Caliskan von der Princeton University gezeigt, schnappen die Maschinen auch aller- hand typisch menschliche Vorurteile, Stereotype und diskriminierende Ansichten auf. Wie genau die neuronalen Netze jeweils zu ihren Schlüssen kommen, lässt sich kaum nachvollzie- hen. Für Forscher sind sie weitgehend eine Blackbox. Zumindest aber kann man ihnen beim Lernvorgang zusehen. Füttert man eine Maschi- ne mit Texten, damit sie sich daraus die mensch- liche Sprache erschließt, geht sie nach Byrons Theorie ganz ähnlich vor wie kleine Kinder: Die lernen keine Definitionen, sondern versuchen, die Bedeutung von Wörtern und Sätzen aus dem Zusammenhang zu erfassen. Je mehr Vergleichs- text vorliegt, desto besser. Für die Maschinen ist dank des Internets der Nachschub quasi endlos – das lädt aber auch zu Fehlschlüssen ein. So hätten frühere, regelbasierte Verfahren für Computerdolmetscher etwa das Wort compatri- otes wörtlich übersetzt (es existiert sogar buch- staben- und sinngleich im Englischen). Dagegen sucht die neue Technik nach einer Bedeutung, indem sie große Datenmengen vergleicht. Sie er- zeugt sozusagen Semantik 1 per Statistik. Und sta- tistisch gilt für die Mehrheit aller Präsidentenan- sprachen: Wenn darin der Satz „Liebe XY, vielen Dank für Ihr Vertrauen“ vorkommt, steht XY meist für die Wörter „ fellow Americans “, ameri- kanische Mitbürger. Denn fast jede Rede eines US-Präsidenten beginnt mit dieser Floskel. Schlecht bezahlte Jobs werden automatisch Frauen zugeordnet, gut bezahlte Männern Bliebe es bei solchen gelegentlichen Kuriositäten, könnte man diese den Maschinen noch nachse- hen. Denn insgesamt ist die maschinelle Über- setzung deutlich besser geworden. Aber hier geht es um mehr. Und ein Blick in die Vorurteils­ forschung hilft, zu verstehen, was an der Sache heikel ist. Um unbewusste Vorurteile bei Menschen zu un- tersuchen, bedienen sich Psychologen für ge- wöhnlich des sogenannten Implicit Associations Test (IAT). Dieser misst, wie lange ein Proband benötigt, um zwei Begriffe miteinander in Ver- bindung zu bringen. Kommen ihm deren Bedeu- tungen ähnlich vor, ist die Reaktionszeit kürzer, als wenn ihm die dahinterstehenden Konzepte semantisch inkompatibel erscheinen. So assozi- ieren Menschen etwa Blumennamen eher mit Adjektiven wie „schön“ oder „hübsch“, Insekten dagegen eher mit negativen Begriffen. Informatiker können zeigen, dass Maschinen ganz ähnliche Assoziationen produzieren. Sicht- bar werden sie im sogenannten Word-to-Vec- Verfahren, das Bryson gewissermaßen als ma- schinelle Variante des IAT nutzt. Dieses Verfahren ist üblich in der Computerlinguistik 2 , um Semantik zu erfassen: Wörter werden danach sortiert, welche anderen Wörter häufig in ihrem Umfeld auftauchen. Klingt abstrakt? Ein Aufsatz vonWissenschaftlern der Boston University und Forschern bei Microsoft Research bringt das Problem schon im Titel auf den Punkt: Man is to Computer Programmer as Women is to Homema- ker – „Mann verhält sich zu Programmierer wie Frau zu Haushaltshilfe“. Der im vergangenen Jahr veröffentlichte Aufsatz wird seit Monaten unter Computerlinguisten heftig diskutiert. Zeigt er doch, dass die Algorithmen nach der statistischen Auswertung menschlicher Texte ein altmodisches Rollenbild reproduzieren. Anhand vieler solcher Beispiele haben Bryson und Caliskan untersucht, wie sich das Weltbild der Maschinen zusammensetzt. Sie fanden dabei unter anderem heraus, dass die künstliche Intelligenz Blumen ebenso wie europäisch-ame- 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 Lesen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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