sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

88 Gestalten Sie eine Übersicht über die Stilmittel, die Sie in Harald Martensteins Kolumne Über enga- gierte Literatur auffinden. Erläutern Sie Ihre Ergebnisse in Hinblick auf die Absicht, mit der die Kolumne vermutlich verfasst wurde. A7  gierten Fernsehmoderatoren, die vor Rührung über ihre eige- nen Kommentare mit den Trä- nen kämpfen, neben all den en- gagierten Bloggern und den NGOs und den besorgten Leit- artiklern und, nicht zu verges- sen, den sexy Liedermacherin- nen mit dem engagierten Augenaufschlag soll ich mich auch noch engagieren? Sind Sie irre? Ich soll demArmageddon 1 an Moralismus, in dessen Mitte wir uns befinden, diesem sau- ren Regen aus säuselndem Phi- listertum 2 , auch noch was hin- zufügen? Wenn’s hilft, gerne. Aber wenn nicht mal Claus Kle- ber 3 die Welt retten kann, dann bleibt sie eh ungerettet. Eine bessere Welt, was ist das überhaupt? Kein Hass, keine Kriege, so was in der John-Len- non-Richtung? Es gibt Kriege, die ich richtig finde, und es gibt vielleicht sogar Hass, den ich richtig finde, also zurzeit. Alle 20 Jahre ändere ich sowieso meine Meinung und Sie auch. Aber Literatur sollte länger hal- ten. Um mich engagieren zu können, müsste ich mir meiner eigenen Meinung sicher sein und Antworten besitzen, kurz, ich müsste das Gegenteil eines interessanten Autors sein. Ich schreibe einen Roman, wenn ich eine Frage habe, auf die ich keine Antwort weiß. Deshalb erzähle ich eine Geschichte, um dabei selbst klüger zu werden, um zu suchen und nicht, um anderen etwas beizubringen. Ich bin nicht Jesus, I am only the piano player. Wenn ein Buch uneindeutig ist, wenn es mehrere Sichtweisen zulässt, wenn es mich an meinen wack- ligen Ansichten zweifeln lässt, wenn ich über die Guten wü- tend werde und um die Bösen weine, wenn ich mich im Kopf eines Menschen befinde, der ein bisschen anders tickt als ich, dann ist es für mich ein gutes Buch. Das hat nichts mit Mei- nungen zu tun. Für Literatur- kritiker, welche die Qualität ei- nes Buches vor allem daran messen, ob es mit ihrer Mei- nung übereinstimmt, habe ich nur Verachtung übrig. Ich könnte eine engagierte Ge- schichte über ein Flüchtlings- mädchen schreiben, das gibt es ja tausendfach und ist manch- mal auch gut geschrieben. Nicht dass ich so was nie gelesen hät- te. Das lesen die ohnehin Über- zeugten, das ist wie politisches Kabarett anno 1970, nur in rüh- rend. Die NPD 4 -Ortsgruppe wird, wie so oft, auch dieser Le- sung fernbleiben. Was Literatur im besten Fall erreichen kann, wenn sie denn unbedingt etwas erreichen soll: Sie kann das Denkvermögen stärken. Und je länger du nachdenkst, desto we- niger Gewissheiten hast du, desto misstrauischer wirst du in Bezug auf dich selbst. Und eine Welt, in der alle an ihren Ge- wissheiten zweifeln, wäre tat- sächlich eine bessere Welt. QUELLE: ZeitMagazin 42/2015 (03. November 2015). 1 Armageddon: Nach der Offenbarung des Johannes (Apokalypse) jener Ort, an dem die Schlacht der Endzeit stattfinden wird; steht metaphorisch für eine große Katastrophe 2 Philister: eigentlich historisches Volk im Nahen Osten; hier: Spießbürger 3 Deutscher TVJournalist 4 Nationaldemokratische Partei Deutschlands, eine rechtsextreme Partei 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 Merkenswert: Die Kolumne Eine Kolumne ist ein kurzer journalistischer Meinungsbeitrag. Kolumnen erscheinen regelmäßig und werden in Printmedien immer an der gleichen Stelle positioniert. Die Verfasserinnen bzw. Verfasser von Kolumnen werden Kolumnistinnen bzw. Kolumnisten genannt. Die Kolumne drückt die Meinung der Verfasserin bzw. des Verfassers aus und ist verwandt mit dem Kommentar und der Glosse. Viele Kolum- nen haben polemischen 1 Charakter; oft sind sie auch in Form von Geschichten geschrieben. 1 polemisch: scharf, unsachlich, kämpferisch Lesen 3  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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