sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

45 ten, wonach hierzulande Jahr um Jahr immer mehr Bücher verkauft, wenn auch nicht gelesen werden, noch die Einsicht, dass Lesen schon in der Antike ein recht elitäres Vergnügen war und dies bis heute geblieben ist. Seit Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, in Mainz vor gut fünf Jahrhunderten den Buch- druck mit beweglichen Lettern erfand, ist die Zahl der Lesenden in Deutschland kontinuier- lich gewachsen. Nun in einer Gesellschaft mit schrumpfender Leserschaft zu leben ist mir pein- lich, ja, offen gestanden reagiere ich auf diesen statistischen Befund mit Ekel und Widerwillen. Es geht mir damit nicht viel anders, als müsste ich zur Kenntnis nehmen, dass größere Teile meiner Mitmenschen von einem Tag auf den an- deren beschlossen hätten, sich nicht mehr zu wa- schen. Ich bin ungern unter Menschen, die nicht lesen. Genauso ungern wie unter Menschen, die sich nicht waschen. Deshalb meide ich in Köln den öffentlichen Nahverkehr. Nicht cool, aber wünschenswert Aber sei es, weil man sich dumpf daran erinnert, dass unsere Kultur von Buchreligionen geprägt ist, sei es, weil man noch weiß, wie scharf die Waffe Buch einst im Kampf um bürgerliche Emanzipation in der Feudalgesellschaft war: Le- sen gilt auch im Deutschland des Jahres 2016 zwar nicht als cool, immerhin aber als wün- schenswert. Die meisten Eltern sehen ihre Kin- der lieber über ein Buch gebeugt als über ein Smartphone. Die Reichen und Schönen unseres Landes, also Wirtschaftsführer, Politiker und Schlagerstern- chen, lassen sich zwar selten mit einem Buch in der Hand in der Öffentlichkeit erwischen, umso lieber sehen sie ihre Konterfeis aber auf den Ti- telbildern von Büchern. Just diese Bücher sind es dann wiederum, die vielen Menschen die Lust am Lesen verleiden. So etwas nennt man einen geschlossenen Regelkreis. Kulturfrömmelei ist einer der weniger schönen Züge im öffentlichen Leben unseres Landes. Während Schwergewichtsweltmeister eher selten Menschen begegnen, die ihnen versichern, dass sie in ihrer Freizeit passioniert und regelmäßig in derselben Gewichtsklasse boxen, treffe ich un- entwegt auf Menschen, die mir erklären, dass sie am allerliebsten den lieben langen Tag läsen – wenn ihnen nur ihre verflixte Tätigkeit als Model oder Ministerpräsident, CEO oder Intendant die Zeit dafür ließe. So ein Pech aber auch. Was geht mich Lolita an? Da war es eine erfrischende Abwechslung, als ich am Rande seiner Talkshow Stefan Raab kennen- lernen durfte. Stefan Raab liest nach eigenemBe- kunden jede Menge. Aber keine Belletristik, son- dern ausschließlich Sachbücher. Diese Lektürevorliebe teilt Raab mit der Mehrheit der Männer in Deutschland. Warum, setzte mir Raab die Pistole auf die Brust, solle er sich denn auch mit Literatur aufhalten? Nie habe er begrif- fen, weshalb er sich für erfundene Probleme er- fundener Figuren interessieren müsse – was gin- gen ihn Hänsel und Gretel, Lolita oder Oskar Matzerath an? Diese Fragen sind wie Stefan Raab selbst: gar nicht so dumm. Sie stürzen mich durchaus in Er- klärungsnot. Warum fasziniert mich das Herze­ leid Othellos? Was elektrisiert mich am Gelang- weiltsein Emma Bovarys in ihrer Ehe? Warum ist mir die Niedertracht Richard III. oder der rast­ lose Geiz Dagobert Ducks durchaus nicht gleich- gültig? Literatur lesen heißt, mehr als ein Leben führen zu dürfen, ohne mehr als einen Tod sterben zu müssen. Literatur lesen stärkt unsere Empathie und erschüttert unsere lieb gewordenen Glau- bensgewissheiten. Literatur lesen schärft unseren Blick für die Nacktheit der Kaiser in neuen Klei- dern. Literatur schützt vor Narzissmus, indem sie den Blick vom eigenen Nabel hinaus in die Welt lenkt. Literatur ist ein Fluchtmittel Literatur war für mich immer so etwas wie eine in einen Kuchen eingebackene Feile. Ein Flucht- mittel. Um dem zu entkommen, was den Alltag zum öden Gefängnis macht. Dem ständigen Kreisen um den eigenen Nabel. Den blöden Pa- rolen des Zeitgeists. Genau deshalb ist Lesen, ist Literatur totalitären Machthabern immer ein Dorn im Auge und steht bis heute unter politi- schem Verdacht. Lesen ist immer eskapistisch. Das finden keines- wegs alle gut. Die Einzigen, die etwas gegen Es- kapismus haben, sagte der Autor des „Herrn der Ringe“ J. R. R. Tolkien deshalb, sind Gefängnis- 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 Schreiben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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