sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

27 Der Baron von Münchhausen Eine der bekanntesten literarischen Figuren aus der Zeit des Biedermei- er ist wohl der Baron von Münchhausen mit seinen unglaublichen und wunderbaren Geschichten. Viele von Ihnen werden die eine oder andere seiner Geschichten sicher schon gelesen haben. Zahlreiche Autorinnen und Autoren dieser Zeit beschäftigten sich mit den Geschichten rund um den Baron, darunter Rudolf Erich Raspe (1736–1794) und Gottfried August Bürger (1747–1794). Das Werk Bürgers, das teilweise starke Anleihe an Raspes Werk nimmt, gehört dabei zu den bekanntesten. Der Erfolg der Münchhausen-Geschichten zeigt sich auch in den immer fortlaufenden Bearbeitungen des Stoffes wie der von Karl Immermann (1796–1840). Lesen Sie den folgenden Auszug aus Immermanns Werk Münchhausen . Überlegen Sie mit Ihrer Partnerin/Ihrem Partner, was an diesem Werk den Menschen im Biedermeier so gut gefallen haben könnte. Bedenken Sie dabei, dass Ironie im Biedermeier hoch geschätzt wurde und diese Form des Humors gerade in literarischer Hinsicht zu hoher Beliebtheit gelangte. Karl Immermann (1796–1840): Münchhausen − Neuntes Kapitel (1838/1839) Verständnisse und Mißverständnisse, Sehnsucht, Orden, Gesinnungen und Ehrenstellen; Görres und Strauß 1 ; die Pücelle d’Orléans 2 , Zeichen, Wunder und neue Geheimnisse In den nächsten Tagen nach der Ankunft des Fremden ging das schwärmende Entzücken der Schloßbewohner über den wunderbaren Mann in den ruhigeren, aber um so festeren Glauben über, daß in ihm der vom Verhängnis bestimmte Heiland ihrer Wünsche erschienen sei. Denn der alte Baron merkte schon am ersten Abende, an welchem er Münchhausens Unterhaltung genoß, daß mit den Kenntnissen, Erfahrungen, Schick- salen, Blicken, Ideen und Hypothesen seines Gastes niemand zwischen Himmel und Erde sich zu messen vermöge. Er war, seinen Erzäh- lungen zufolge, fast in allen bekannten und un- bekannten Gegenden der Erde gewesen, hatte sämtliche Künste und Wissenschaften getrieben, zu Weinsberg 3 Blicke in das Geisterreich getan, war durch alle Lagen des Lebens abwechselnd als Küchenjunge, Krieger, Staatsmann, Naturfor- scher und Maschinenbauer gegangen. Selbst in außermenschliche Regionen war sein Lebenslos geworfen worden; er ließ nach den ersten Stun- den der Bekanntschaft merken, daß er einen Teil seiner Tage unter dem Vieh zugebracht habe. Der alte Baron hatte hauptsächlich die Abend- stunden, in welchen die Gesellschaft sich im Wohnzimmer zu versammeln pflegte, und bei dem Scheine einer Kerze auf den hölzernen Schemeln um den kiefernen Tisch saß, sich zu Mitteilungen erbeten. Für die Gartenpromena- den war von ihm ein noch strengeres Silentium 4 festgesetzt worden, als früherhin, „denn“, sagte er, „man muß den Tag zum Nachdenken frei be- halten, darüber, was Münchhausen am Abend erzählt; des Stoffes wird sonst zuviel, und wir werden alle drehend, wie die Schafe, von der Weisheit dieses Mannes.“ – Aus dem Journalzir- kel trat er nun wieder aus; in seinem Gaste besaß er jetzt mehr, als ihm eine Zeitschrift bieten konnte, der Geist aller Journale erschien in Münchhausen verkörpert. Immer ging der wun- derbare Mann bei seinen Erzählungen von etwas Bekanntem und Verbürgtem 5 aus, erhob sich aber von dieser Grundfläche zu den kühnsten und abenteuerlichsten Schwüngen, so daß man wohl sagen konnte, er stelle recht eigentlich in seiner Person den gewaltigen Fortschritt unserer Zeit dar. Freilich blieb die Empfindung des Schloßherrn A41  B 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 Münchhausen zieht sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf, Postkarte von Oskar Herrfurth, vor 1934 Reflexion Literatur Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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