sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

25 freundet sich mit ihr an. Auch mit Goethes Mut- ter verbindet sie eine Freundschaft. Von ihr lässt sie sich aus dem Leben ihres berühmten Sohnes erzählen, den sie zeitlebens bewundert. Viele Jahre später fließen diese Gespräche in „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ (1835), das Buch, das ihren Ruhm als Schriftstellerin be- gründen wird. Doch zuvor führt sie ein eher profanes Leben als Ehefrau und Mutter. 1811 heiratet sie den Dich- ter Achim von Arnim, den Freund ihres Bruders Clemens Brentano. Abwechselnd lebt sie nun auf dem ländlichen Gut Wiepersdorf und in Berlin, oft getrennt von ihrem Mann. Die Ehe ist nicht einfach. Geldsorgen, die Pflege und Erziehung von sieben Kindern, schließlich die strapaziöse Arbeit auf dem Gut entfernen sie zeitweise von ihren poetischen Träumen („Das Schreiben ver- geht einem hier“). Nach Arnims Tod siedelt sie dann ganz nach Berlin über und spielt nun eine wichtige Rolle im kulturellen Leben. Sie holt die Briefe und Dokumente ihrer Jugend aus der Schublade und schreibt ein Buch nach dem an- deren. Und sie engagiert sich, setzt sich ein für die schlesischen Weber („Armenbuch“, 1844), für die Rehabilitierung der Brüder Grimm am preußischen Hof und für die Begnadigung des zum Tode verurteilten Demokraten Gottfried Kinkel. Strenge Zensur und ein unbarmherziger Sicherheitsapparat ersticken jede freie literari- sche Äußerung in Deutschland. Dank ihrer Be- rühmtheit und mit bewusst inszenierter Naivi- tät, gelingt es Bettina von Arnim immer wieder, Kritik an diesen Verhältnissen in ihre Bücher zu schmuggeln („Dies Buch gehört dem König“, 1845). Der Text Bettine, wie sie ihre Briefe stets unterzeichnete, brauchte den Dialog mit einem geliebten Gegen- über. Erst so vermochte sie, ihr eigenes Ich zu spüren und zu entfalten. Eine ideale Vorausset- zung für die literarische Form, die sie wählte, die sie zur Kunstform entwickelte und die sie schließlich berühmt machte: Romane in Briefen. Die Grundlage der „Günderode“ bilden die Brie- fe und Gespräche der beiden jungen Frauen aus den Jahren 1804 bis 1806. Jahrzehnte sollten ver- gehen, bis Bettina von Arnim die Gelegenheit hatte, daraus einen Briefroman zu machen. Da- bei ging sie sehr frei mit dem Material um. Sie veränderte Briefe, erfand neue hinzu, sie streute Gedichte der Günderode in den Text und arbei- tete Gespräche aus ihrer Erinnerung hinein, ohne dabei eine tiefere Wahrheit zu verletzen. Karoline von Günderode, die talentierte, aber einsam und zurückgezogen lebende Dichterin hatte sich 1806 das Leben genommen. Das Wis- sen um ihren tragischen Tod schimmert zwi- schen den Zeilen des Briefromans immer wieder durch. So ist das Buch auch ein Erinnerungs- buch an die geliebte Freundin geworden, ande- rerseits wirkt es wie ein fortwährendes Gespräch über Natur und Geschichte, das Wesen der Poe- sie und des Göttlichen. Dabei unterscheiden sich die Frauen durchaus in ihren Ansichten. Karo- line von Günderodes Forderungen an das Leben und die Kunst sind absolut und kompromisslos. Streng und unnachgiebig, auch mit sich selbst, will sie lieber früh sterben als ein unzulängliches Leben führen. Bettine dagegen ist die Ungestü- me, die sich das Leben ,passend‘ macht und sich eine heiter-ironische Distanz zu allen Zwängen der Gesellschaft und den Regeln der Dichtkunst bewahrt. In der „Günderode“ findet sich die ganze litera- rische Klaviatur, auf der Bettine zu spielen ver- mag: Witzige Schilderungen von Alltagsbege- benheiten sowie scharfe Karikaturen diverser Bewohner des weitläufigen Brentanoschen Haushalts wechseln sich ab mit poetischen Schilderungen, die sie zu Recht zu einer wichti- gen Vertreterin der Romantik machen. Und man begegnet der munter drauf los philosophieren- den Bettine, die Denkern die Leviten liest, die lediglich Gedanken produzieren wie Hobelspä- ne an der Drechselbank, ohne dabei weise zu sein. Sie ist mutig genug, ihre eigenen Gedanken zur Natur und dem Zusammenhang aller Dinge zu formulieren. Ja, sie würde sogar die Welt ver- ändern, wenn man sie nur ließe. Aber es gibt auch die leise, zweifelnde Bettine: „Die Men- schen sind gut, ich bin es ihnen von Herzen, aber wie das kommt, daß ich mit niemand spre- chen kann?“ „Übersetzt“ man Bettina von Arnim heute für uns, wirkt sie fast wie eine Zeitgenossin, die man sehr gerne kennenlernt. […] QUELLE: https://www.dw.com/de/bettinavonarnimdieg%C3%BCnderode1840/a4465414; (abgerufen am 23.04.2020; Zitate in OriginalRechtschreibung) 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 Reflexion Literatur Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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