sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

23 hauenen Ganges zu sein schien. Der Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus der ihm schon von fern ein helles Licht entgegen glänzte. Wie er hi- neintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes stieg, und oben in unzählige Fun- ken zerstäubte, die sich unten in einem großen Becken sammelten; der Strahl glänzte wie ent- zündetes Gold; nicht das mindeste Geräusch war zu hören, eine heilige Stille umgab das herrliche Schauspiel. Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. Die Wände der Höhle waren mit dieser Flüssigkeit überzogen, die nicht heiß, sondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von sich warf. Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, und er fühlte sich innigst gestärkt und erfrischt. Ein un- widerstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu ba- den, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots; eine himmlische Empfindung über- strömte sein Inneres; mit inniger Wollust streb- ten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermi- schen; neue, niegesehene Bilder entstanden, die auch ineinanderflossen und zu sichtbaren We- sen um ihn wurden, und jede Welle des liebli- chen Elements schmiegte sich wie ein zarter Bu- sen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten. Berauscht von Entzücken und doch jedes Ein- drucks bewußt, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloß. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbe- schreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quel- le, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bun- ten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern be- rührte. Rund um sie her standen unzählige Blu- men von allen Farben, und der köstliche Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blu- me, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verän- dern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüten- blätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kra- gen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme sei- ner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergol- dete. Er war zu entzückt, um unwillig über diese Störung zu sein; vielmehr bot er seiner Mutter freundlich guten Morgen und erwiderte ihre herzliche Umarmung. […] QUELLE: https://www.projektgutenberg.org/novalis/ofterdng/ofter111.html; (abgerufen am 24.03.2020, in alter Rechtschreibung) Markieren Sie im Text Passagen, die sich um die blaue Blume drehen. Welche Bedeutungsebenen der blauen Blume können Sie im Text erkennen? Finden Sie zu zweit weitere, für die Romantik typische Epochenmerkmale im Text. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse im Plenum. Lesen Sie das Gedicht Die blaue Blume von Joseph von Eichendorff und vergleichen Sie dieses mit dem Romanauszug von Novalis. Welche Parallelen und welche Unterschiede in Bezug auf die blaue Blume können Sie feststellen? Sprechen Sie im Plenum darüber. A34  A35  C B A36  C 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 Reflexion Literatur N u r zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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