sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

22 Lesen Sie den Beginn von Heinrich von Ofterdingen . Der im Mittelalter spielende Roman beginnt damit, dass Heinrich, ein junger Sänger, von einer Wunderblume träumt. Ein Reisender hat Heinrich von der blauen Blume erzählt und in ihm das Verlangen nach dieser geweckt. Novalis (1772–1801): Heinrich von Ofterdingen (1802) Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wand- uhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwech- selnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf sei- nem Lager, und gedachte des Fremden und sei- ner Erzählungen. „Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir ge- weckt haben“, sagte er zu sich selbst; „fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn' ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unauf- hörlich im Sinn, und ich kann nichts anderes dichten und denken. So ist mir noch nie zumute gewesen: es ist, als hätt ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinüberge- schlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab' ich damals nie gehört. Wo ei- gentlich nur der Fremde herkam? Keiner von uns hat je einen ähnlichen Menschen gesehn; doch weiß ich nicht, warum nur ich von seinen Reden so ergriffen worden bin; die andern ha- ben ja das nämliche gehört, und keinem ist so etwas begegnet. Daß ich auch nicht einmal von meinem wunderlichen Zustande reden kann! Es ist mir oft so entzückend wohl, und nur dann, wenn ich die Blume nicht recht gegenwärtig habe, befällt mich so ein tiefes, inniges Treiben: das kann und wird keiner verstehn. Ich glaubte, ich wäre wahnsinnig, wenn ich nicht so klar und hell sähe und dächte, mir ist seitdem alles viel bekannter. Ich hörte einst von alten Zeiten re- den; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist gerade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten. Es muß noch viel Worte geben, die ich nicht weiß: wußte ich mehr, so könnte ich viel besser alles begreifen. Sonst tanzte ich gern; jetzt denke ich lieber nach der Musik.“ Der Jüngling verlor sich allmählich in süßen Phanta- sien und entschlummerte. Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbe- kannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wunderliche Tiere sah er; er lebte mit mannigfaltigen Menschen, bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er geriet in Gefangenschaft und die schmählichste Not. Alle Empfindungen stiegen bis zu einer niegekannten Höhe in ihm. Er durchlebte ein unendlich buntes Leben; starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leiden- schaft, und war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stil- ler in seiner Seele, klarer und bleibender wurden die Bilder. Es kam ihm vor, als ginge er in einem dunkeln Walde allein. Nur selten schimmerte der Tag durch das grüne Netz. Bald kam er vor eine Felsenschlucht, die bergan stieg. Er mußte über bemooste Steine klettern, die ein ehemali- ger Strom herunter gerissen hatte. Je höher er kam, desto lichter wurde der Wald. Endlich ge- langte er zu einer kleinen Wiese, die am Hange des Berges lag. Hinter der Wiese erhob sich eine hohe Klippe, an deren Fuß er eine Öffnung er- blickte, die der Anfang eines in den Felsen ge- A33  Merkenswert: Die blaue Blume Bei der blauen Blume handelt es sich um ein zentrales Motiv der Romantik. Sie steht für die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, für unerfüllte Gefühle, die Liebe, für die Verbindung von Mensch und Natur, für Wanderschaft, aber auch für die romantische Dichtung im Allgemeinen. Erstmals verwendet wurde das Symbol von Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, 1772–1801) in seinem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen . 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 Reflexion Literatur 1  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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