sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

207 Immigrationsbehörde schon zu Besuch und fragten, was die Leute hinter den Bildschirmen mit den Kopfhörern eigentlich den ganzen Tag treiben. „E-Mails schreiben und Videos auf You- tube schauen“, sagte der Hubud-Chef, woraufhin sie zufrieden waren und wieder gingen. Seither werden die Westler mit den Notebooks wie Tou- risten behandelt. „Und jetzt sind wir Schmetterlinge“ Digitale Nomaden sind ein Phänomen, das die meisten Regierungen überfordert. Wo sollen die- se Personen sich registrieren? In welchem Land Steuern zahlen? Manche füllen die Steuererklä- rung ihres Herkunftslandes aus, andere die Sin- gapurs, manche keine. Georgio zahlt seine Steu- ern noch immer in England, auch weil er so seine Krankenversicherung behält. Estland bietet seit 2014 eine digitale Staatsbürgerschaft an, die „E-Residency“. Sie erlaubt es Staatenlosen, einen Steuerwohnsitz anzumelden, ein Konto zu eröff- nen, eine Firma zu gründen. Die Idee stammt vom estländischen Politiker Taavi Kotka, Mit- gründer des Internet-Telefonanbieters Skype. Steve Munroe, Chef des Coworking Space Hu- bud, treibt die Frage um, wie die Einheimischen von der Invasion der digitalen Nomaden profi- tieren könnten. Wie man einen Austausch an- regt, von dem beide Seiten etwas haben. „Wir Westler könnten natürlich regelmäßig den Strand von Abfall säubern“, sagt er, „aber das wäre, wie ein Waisenkind streicheln – ohne Ef- fekt.“ Seine Idee ist, dass die Westler gratis Web- sites für die lokale Bevölkerung programmieren. So würde das Know-how der digitalen Nomaden am wirkungsvollsten eingesetzt, und die Ge- schäfte der Einheimischen könnten professiona- lisiert werden. Er ist nur noch nicht sicher, wie er die Zusammenarbeit am besten koordiniert; er hat viele Jahre für die UNO gearbeitet und weiß, wie schwierig Entwicklungshilfe ist. Auf der Dachterrasse des Roam turnen in der ersten Reihe Georgio, David Kamp, ein Deut- scher, der gerade eine neue Schokoladenmarke aufbaut (nach Bier und Kaffee der nächste große Craft-Trend), und der kanadische Grafiker, der sein Geld größtenteils an der Wall Street gemacht hat. Es ist schon wieder unglaublich heiß, die Männer tragen Badehosen, der Schweiß tropft auf die Yogamatten. Konzentrierte Gesichter, verrenkte Körper, fast alle besuchen täglich Klas- sen, hier oder in einem der unzähligen Studios. „Und jetzt sind wir Schmetterlinge und fliegen 500 Meter weit“, sagt der philippinisch-kanadi- sche Maler. Die Beine im Schneidersitz angewin- kelt, wippen neun Paar Knie. „Und nun: glückli- che Babys.“ Auf dem Rücken liegend fassen alle mit den Händen die nackten Füße und rollen hin und her. Als sich der Himmel am Horizont hinter den Palmen orangerosa verfärbt und die holländi- sche Illustratorin in der Wolkenform ein schla- fendes Herz erkennt und noch immer niemand auf der Straße ist und alle Häuser in der Dunkel- heit versinken, damit die Dämonen an der Insel vorbeiziehen, sagt Georgio, der Bulgare: „So müssen sich in früheren Zeiten Sonntage ange- fühlt haben.“ Es ist eigentlich egal, welcher Wochentag gerade ist, ja sogar, welche Uhrzeit. Nur Samstag und Sonntag helfen noch ein bisschen bei der Orien- tierung. Wer keine Skype-Termine und keine nahen Deadlines hat, macht Freizeitpläne. Die angesagteste Party der Insel findet samstag- abends in Ubud statt. Um sieben Uhr, als der ka- nadische Grafikdesigner und der Programmierer aus dem Silicon Valley an der auf Facebook ange- gebenen Adresse aus dem Taxi steigen, tanzen bereits 200 Menschen barfuß vor und in der Privatvilla. Die meisten hier sind single. Eine feste Beziehung ohne festes Zuhause – das passt nicht gut zusammen. Verliebt man sich in eine sesshafte Person, kommt irgendwann der Moment des Abschieds. Das Ideal wäre: sich in jemanden mit dem gleichen Lebensstil zu verlie- ben und gemeinsam um die Welt zu ziehen. Demnächst soll eine Dating-Plattform für digita- le Nomaden online gehen. Es geht aber um viel mehr als die Suche nach dem persönlichen Glück. Was hier gelebt wird, ist die Utopie einer neuen Gesellschaft. Vielleicht ist es wie mit den Hippies der 68er: Erst werden sie als Spinner abgetan, manche Ideen werden sich als Irrtum entpuppen, andere als viel zu ex- trem. Aber ihre Vision wird die Gesellschaft für immer verändern. Wie die Hippies die Erzie- hung und die Sexualmoral revolutionierten, wer- den die digitalen Nomaden unsere Arbeitswelt umwälzen. 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 216 218 220 222 224 226 228 230 232 234 236 238 240 242 244 246 248 250 252 254 256 258 260 262 264 266 Reflexion Medien Sprach- reflexion Schreiben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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