sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

206 dominiert die Speisekarten, keiner missioniert, aber Fleisch ist doch eher out. […] Manche Roam-Bewohner sind noch im Modus des sehr langen Auslandsaufenthalts, wie die Bri- tin Terri, andere haben schon seit Jahren kein Zuhause mehr, wie der Bulgare Georgio. Als er vor acht Jahren die Schule verließ und den Ent- schluss fasste, um die Welt zu ziehen, schlief er erst mal einen Winter lang in New York bei Freunden auf einer Luftmatratze. „Heute mag das glamourös klingen“, sagt er, „aber ich war borderline 3 obdachlos.“ In Costa Rica hat er eine Vermittlungsagentur für Sprachschulen gegrün- det, in Schweden ein Studium in Unternehmer- tum absolviert und in London für Techstars ge- arbeitet, den wichtigsten Beschleuniger für Unternehmensgründungen. In Costa Rica war der Kontakt zu den Einheimischen besser und der Zeitunterschied zu den Vereinigten Staaten geringer, aber die Infrastruktur auf Bali ist un- schlagbar: wahnsinnig günstig, kaumKriminali- tät, kurze Wege (auch zum Strand) und das In- ternet schneller als überall sonst. Blasse Haut im Sommerparadies Wenn diese Insel einen Nachteil hat, dann den, dass Georgio, der eine Firma mit mehreren An- gestellten leitet, sich ständig rechtfertigen muss. Die Menschen im Westen können sich nämlich nicht vorstellen, dass im Ferienparadies Bali ir- gendjemand ernsthaft arbeitet. „Meine Eltern denken noch immer: Erfolgreiche Menschen le- ben in London oder New York“, sagt er. Dabei arbeite er auf Bali fokussierter als in einem ver- glasten Büro einer abendländischen Metropole. Schwer zu sagen, wie viele Westler sich mit Note- book auf Bali aufhalten, einige Tausend dürften es schon sein. Seit drei Jahren schießen soge- nannte Coworking Spaces aus dem Boden wie Reispflanzen in der Regenzeit. Der erste war Hu- bud – Hub in Ubud. Mehrere Hundert Mitglie- der, Skype-Kabinen, klimatisierte Sitzungsräu- me, Schreibtische unterm Ventilator mit Blick auf Bananenpalmen. Am Eingang stapeln sich die Flipflops, drinnen sind alle barfuß. Manch- mal klettert ein Äffchen aus dem angrenzenden Wald über die Mauer. Junge Frauen und Männer auf Sitzsäcken und in Hängematten gestikulieren in ihr Smartphone. Der kalifornische Program- mierer aus dem Roam hat sich Hubud mal ange- schaut und war ein bisschen schockiert, dass die Menschen hier noch ernsthafter arbeiten. Alle versunken in ihre Bildschirme, Unterhaltungen nur im Flüsterton. Trotz 33 Grad im Schatten sind manche so blass, als seien sie lange nicht mehr an der Sonne gewesen. Social Cooking statt Social Media: Die Roam-Bewohner bereiten gemeinsam den Lunch zu Was früher das Homeoffice war, heißt heute re- mote 4 . Nicht nur Freelancer 5 , sondern auch im- mer mehr Angestellte sitzen nicht mehr in einem Firmengebäude, sondern arbeiten aus der Ferne: Beim Medienunternehmen Buzzfeed sind es 50 Prozent; bei Mozilla, der Firma hinter dem Fire- fox-Browser, schon 60 Prozent; bei der Firma Automattic, der Gruppe hinter Wordpress, wäh- len alle über 400 Mitarbeiter ihre Arbeitsumge- bung selbst. Eine klassische Berufskarriere wirkt im Hubud wie ein antiker Ausgrabungsfund: historisch si- cher bedeutsam, aber aktuell nicht von Nutzen. Alle haben mehrere Jobs. Projekte, Einnahme- quellen. Schreibtische gibt es nicht, genauso we- nig Drucker oder Sitzungsräume. […] Manche Länder locken Freelancer gezielt an […] Es gibt Entwicklungs- und Schwellenländer, die westliche Freelancer und Start-ups gezielt an- locken, weil sie sich wirtschaftliche Impulse von ihnen erhoffen. Südkorea vergibt Förderstipen- dien; Chile lockt mit bis zu 40 000 US-Dollar Startkapital und einem einjährigen Arbeitsvi- sum. Bali hat all das nicht nötig. Die Leute kom- men von selbst. Die meisten mit einem Touris- tenvisum, mit dem sie 60 Tage im Land bleiben können, dann müssen sie ausreisen. Sogenannte Visa Runs, zweitägige Trips nach Singapur, Bang- kok oder Hongkong, gehören hier zum Alltag. Bei der Gelegenheit kann man auch gleich einen Vorrat an Kontaktlinsen und Tampons kaufen – Produkte, die es auf Bali nicht gibt. Yogalehrer, die man ohne Arbeitsvisum auf Bali erwischt, werden direkt zum Flughafen gefahren und in die nächste Maschine Richtung Heimat gesetzt. Manche Yogaschulen machen deshalb schnell dicht, wenn sich das Gerücht einer anste- henden Kontrolle herumspricht. Auch im Co- working Space Hubud kamen die Mitarbeiter der 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 Reflexion Medien Sprach- reflexion Schreiben 6  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=