sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

205 Reif für die Arbeit Von Paula Scheidt | 09.01.2017 Die digitalen Nomaden arbeiten in einer Kulisse, die andere als Bildschirmschoner benutzen. Bali ist jetzt die lebendigste Spielwiese für neue Lebensentwürfe Programmierer, Autoren, Designer – fast alle folgen einem Dresscode: kurze Hosen und Flip-Flops. Wer von seinem Büroplatz in Berlin, Zürich oder New York aus dem Fenster blickt, sieht oft vor allem: Beton. Auf Bali ist das anders. Die Morgen sind ruhig auf Bali, weil die Men- schen im Westen dann schlafen. Keine Video- konferenzen, keine Anrufe. In der Hängematte liegt der philippinisch-kanadische Maler und streichelt sein Smartphone, im Pool treibt in ei- nem riesigen gelben Schwimmring die holländi- sche Illustratorin, die zurzeit ein Kinderbuch zeichnet, meist nachts, weil sie dann die besseren Einfälle hat. Es ist ein Montag im März, sechs Stunden Zeitverschiebung nach Berlin, zwölf nach New York, 15 nach San Francisco. „Der Traum jedes Prokrastinierers 1 “, sagt Benjamin Gleitzman, ein 29-jähriger Softwareentwickler, den Laptop auf dem Schoß, die Füße im Pool, „wir leben in der Zukunft!“ Er hat drei Firmen im Silicon Valley gegründet, musste aber die Er- fahrung machen, dass die Dollarmillionen der Investoren gute Ideen ruinieren. Deshalb ver- sucht er nun, das Prinzip des Mäzenatentums in der Tech-Branche zu etablieren: Wertschöpfung ohne Renditedruck. Die Infrastruktur für moderne Nomaden Im Schatten sitzt die Social-Media-Expertin Terri Witherden, eine blonde Britin, 26 Jahre alt, erst vor zwei Tagen auf der Insel gelandet. Ein bisschen blass noch, aber gut gelaunt. Wie alle hier trägt sie Shorts und Flipflops. Es ist die Uni- form der digitalen Nomaden. Sie haben den Bü- roalltag westlicher Großstädte abgestreift wie die Lederschuhe, Hemden und Anzughosen, die sie in ihrem früheren Leben trugen. Das Hauptquartier der neuen Lebensform ist ein ehemaliges Hotel und heißt Roam. Wie „umher- schweifen“. Oder auch wie „immer online“. Zwei Österreicher und ein Amerikaner haben die Im- mobilie in der Kleinstadt Ubud vor drei Monaten angemietet, 24 Zimmer, zwei Stockwerke, viel Stein und Holz, der Entwurf eines Berliner Ar- chitekten. Zum Hotel hatte das Gebäude nicht getaugt, zu hohe Kosten für zu wenige Zimmer. Als temporäres Zuhause für Menschen, deren Büro in ein Notebook passt, eignet es sich bes- tens: ein Innenhof mit Pool und offener Gemein- schaftsküche, drei Dachterrassen, jede so groß wie ein Tennisplatz. Anfang Mai haben die Roam-Erfinder die erste Dependance 2 in Miami eröffnet, die nächsten sollen in Madrid, Buenos Aires und London fol- gen, dann an weiteren Orten. Für 1800 Dollar pro Monat bekommt man ein Bett und schnelles WLAN überall auf der Welt. Ziel ist, die Infra- struktur für ein modernes Nomadendasein zu schaffen. Coliving ist die Steigerung des Cowor- king-Trends – nicht nur ein allen offenes, flexib- les Büro zu teilen, sondern dort auch zu wohnen. In der offenen Küche neben dem Pool schnip- peln die Britin Terri und ein kanadischer Grafik- designer Zwiebeln, Auberginen, Feta und Toma- ten, sie wollen Omeletts braten. Erst heute Morgen haben die balinesischen Angestellten die Arbeitsflächen und den Herd mit einem hindu- istischen Ritual eingeweiht: Sie haben aus Kokos- blättern geflochtene Blütenkörbchen mit Räu- cherstäbchen aufgestellt und einen Segen gesprochen. Die meisten Bewohner haben schon lang nicht mehr selbst gekocht. Der Anreiz schwindet, wenn man zwischen so vielen Restau- rants wählen kann, wo Müsli mit Cashewnuss- milch, Frühlingsrollen aus Papaya-Mango-Reis- blättern, Blaubeer-Smoothies, Sushi oder vegane Burger kaum etwas kosten. Der Superfood-Trend 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 Textbeilage 1 Reflexion Medien Sprach- reflexion Schreiben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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