sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

182 jedoch nicht geglaubt wird, weil das Kind gern lügt. Die Mutter wartet noch, aber nur so lange, bis sie eins zwei drei gezählt hat. Schon bei zwei meldet sich die Tochter mit einer von der Wahrheit stark abweichenden Antwort. Die notenerfüllte Aktentasche wird ihr nun ent­ rissen, und gleich schaut der Mutter die bittere Antwort auf alle Fragen daraus entgegen. Vier Bände Beethovensonaten teilen sich indigniert den kargen Raum mit einem neuen Kleid, dem man ansieht, daß es eben erst gekauft worden ist. Die Mutter wütet sogleich gegen das Gewand. Im Geschäft, vorhin noch, hat das Kleid, durch­ bohrt von seinem Haken, so verlockend ausge­ sehen, bunt und geschmeidig, jetzt liegt es als schlaffer Lappen da und wird von den Blicken der Mutter durchbohrt. Das Kleidergeld war für die Sparkasse bestimmt! Jetzt ist es vorzeitig ver­ braucht. Man hätte dieses Kleid jederzeit in Ge­ stalt eines Eintrags ins Sparbuch der Bauspar­ kassen der österr. Sparkassen vor Augen haben können, scheute man den Weg zumWäschekas­ ten nicht, wo das Sparbuch hinter einem Stapel Leintücher hervorlugt. Heute hat es aber einen Ausflug gemacht, eine Abhebung wurde getätigt, das Resultat sieht man jetzt: jedesmal müßte Er­ ika dieses Kleid anziehen, wenn man wissen will, wo das schöne Geld verblieben ist. Es schreit die Mutter: Du hast dir damit späteren Lohn ver­ scherzt! Später hätten wir eine neue Wohnung gehabt, doch da du nicht warten konntest, hast du jetzt nur einen Fetzen, der bald unmodern sein wird. Die Mutter will alles später. Nichts will sie sofort. Doch das Kind will sie immer, und sie will immer wissen, wo man das Kind notfalls erreichen kann, wenn der Mama ein Herzinfarkt droht. Die Mutter will in der Zeit sparen, um später genießen zu können. Und da kauft Erika sich ausgerechnet ein Kleid!, beinahe noch vergänglicher als ein Tupfer Mayonnaise auf einem Fischbrötchen. Dieses Kleid wird nicht schon nächstes Jahr, sondern bereits nächsten Monat außerhalb jeglicher Mode ste­ hen. Geld kommt nie aus der Mode. Es wird eine gemeinsame große Eigentumswoh­ nung angespart. Die Mietwohnung, in der sie jetzt noch hocken, ist bereits so angejahrt, daß man sie nur noch wegwerfen kann. Sie werden sich vorher gemeinsam die Einbauschränke und sogar die Lage der Trennwände aussuchen kön­ nen, denn es ist ein ganz neues Bausystem, das auf ihre neue Wohnung angewandt wird. Alles wird genau nach persönlichen Angaben ausge­ führt werden. Wer zahlt, bestimmt. Die Mutter, die nur eine winzige Rente hat, bestimmt, was Erika bezahlt. In dieser nagelneuen Wohnung, gebaut nach der Methode der Zukunft, wird je­ der ein eigenes Reich bekommen, Erika hier, die Mutter dort, beide Reiche säuberlich vonein­ ander getrennt. Doch ein gemeinsames Wohn­ zimmer wird es geben, wo man sich trifft. Wenn man will. Doch Mutter und Kind wollen natur­ gemäß immer, weil sie zusammengehören. Schon hier, in diesem Schweinestall, der lang­ sam verfällt, hat Erika ein eigenes Reich, wo sie schaltet und verwaltet wird. Es ist nur ein provi­ sorisches Reich, denn die Mutter hat jederzeit freien Zutritt. Die Tür von Erikas Zimmer hat kein Schloß, und kein Kind hat Geheimnisse. Erikas Lebensraum besteht aus ihrem eigenen kleinen Zimmer, wo sie machen kann, was sie will. Keiner hindert sie, denn dieses Zimmer ist ganz ihr Eigentum. Das Reich der Mutter ist al­ les übrige in dieser Wohnung, denn die Haus­ frau, die sich um alles kümmert, wirtschaftet überall herum, während Erika die Früchte der von der Mutter geleisteten Hausfrauenarbeit ge­ nießt. Im Haushalt hat Erika nie schuften müs­ sen, weil er die Hände des Pianisten mittels Putzmittel vernichtet. QUELLE: Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Hamburg: Rowohlt 1986, S. 5–7 (in Originalschreibung). Zwischenstopp Sie haben sich mit folgenden Teilkompetenzen auseinandergesetzt: • sich mit unterschiedlichen Texten von Exilliteraten auseinandersetzen können • Einblicke in das epische Theater gewinnen können • sich sachlich-kritisch mit ausgewählten Texten, Themen sowie Autorinnen und Autoren der 1960er bis 1980er Jahre auseinandersetzen können 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 Reflexion Literatur 5  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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