sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

180 Als Peter Handke den Selbstmord der Mutter erlebte Von Ulrich Weinzierl | 07.11.2009 1972 nahm sich seine Mutter das Leben. In der Erzählung „Wunschloses Unglück“ verarbeitete Peter Handke seine Gefühle. Im Interview mit WELT ONLINE spricht der Autor über die Sonderstellung des Werkes, geleistete Trauerarbeit und den einen oder anderen missglückten Satz. WELT ONLINE: „Wunschloses Unglück“, die Erzählung über den Selbstmord Ihrer Mutter, war eines Ihrer erfolgreichsten Bücher. Nimmt es auch für Sie, in IhremWerk, eine Sonderstellung ein? Peter Handke: Nur insofern: Hier war nichts zu erfinden. Ich konnte nichts erfinden. Ich war im­ mer daran gewöhnt, bin es immer noch gewöhnt, weniger nachzuerzählen als vorzuerzählen. Das Nacherzählen von etwas Schrecklichem, Trauri­ gem kam mir nicht statthaft vor. Es hat nicht so sehr mit meiner Mutter zu tun als mit einem sterbenden Menschen, der auf den Tod zugeht. WELT ONLINE: War das Schreiben eine Hilfe, das Ganze zu bewältigen? Handke: Ich wollte mir nicht helfen, ich wollte einfach die Geschichte, so weit sie mir noch ge­ genwärtig war zwei Monate nach dem Tod, er­ zählen. Es hatte auch nicht den Effekt der Hilfe. Ich habe nicht den mindesten Moment einer Be­ ruhigung erlebt danach. Immerhin habe ich viel­ leicht gedacht: Jetzt ist es getan. Das zumindest ist geschehen, das kann man nicht mehr aus der Welt schaffen, dass diese Geschichte erzählt ist. […] WELT ONLINE: Der Titel „Wunschloses Un­ glück“ ist ein geflügeltes Wort geworden. Handke: Der ist gar nicht von mir. Der Abdruck im „Merkur“ hieß noch, frei nach Kant: „Interes­ seloser Überdruss“. Ich fand das ein bisschen verzopft. Den Rhythmus wollte ich beibehalten und habe demVerlag einige Vorschläge gemacht. Ich glaube aber, „Wunschloses Unglück“ war eine Erfindung der Lektorin bei Residenz, Gertrud Frank. Im Englischen wurde dann daraus, man kann’s eigentlich nicht übersetzen, „A Sorrow Beyond Dreams“ – Kummer jenseits der Träu­ me. WELT ONLINE: War Wunschlosigkeit das Un­ glück Ihrer Mutter? Dass man ihr es ausgetrieben hat, überhaupt noch etwas zu wünschen? Handke: Ich glaube nicht einmal, dass sie wunschlos war. Im Grunde stimmt der Titel nicht, wie viele meiner Titel. Zum Beispiel „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Der Tor­ mann hat gar keine Angst, er ist der, der am Schluss keine hat. Meine Mutter hatte bis zum Ende Wünsche. Sie hat sich immer noch einen anderen Mann gewünscht, einen, der „ein Kava­ lier“ ist. Ich weiß gar nicht, was sie damit gemeint hat. Es ist oft ein Widerspruch zwischen Ge­ schichte und Titel, der nicht Lüge sein muss. WELT ONLINE: Hat Ihre Mutter nicht auch große Literatur mit Ihnen gelesen? Handke: Ja, und sie hat dabei alles radikal auf sich bezogen, das war schön und zugleich ge­ fährlich für sie. Ich habe vielleicht auch einmal so gelesen wie meine Mutter: Jedes Buch als Struktur einer möglichen Autobiografie von sich selber. Mit Kafka wollte sie sich nicht identifizie­ ren. Das kenne ich, kenne ich von meinen Äm­ tern, sagte sie. Sie wollte nicht etwas lesen, wo sie zu sehr vorkam. Dostojewski hat wahrscheinlich am meisten ihrer Seele entsprochen, ihrer ge­ quälten und doch sehr liebenden und sehr viel­ fältigen Seele, die auf Erlösung aus war. Sie war erlösungsbedürftig. Obwohl sie nicht religiös war, sogar eher antireligiös gegen Ende ihres Le­ bens, vielmehr antiklerikal.[…] WELT ONLINE: Der Schlusssatz von „Wunschloses Unglück“ ist inzwischen längst berühmt geworden: „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“ Handke: Das ist auch ein Blödsinn. Das Wort „genau“ ist schon falsch. „Mit mehr Einzel­ heiten“ wollte ich sagen. Ich habe dann später versucht, wie Thomas Wolfe, eine Art Epos der Familie zu erträumen: im Roman „Die Wieder­ holung“. An die Mutter habe ich mich nicht mehr so recht herangewagt. WELT ONLINE: In Salzburg haben Sie mehrere Jahre gelebt, in Berlin, in und bei Paris. Gibt es in 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 Reflexion Literatur 5  Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv

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