sprachreif HUM 4/5, Schulbuch

172 linezeitungen werden Twitter- und Facebook­ meldungen und -filme von irgendwelchen Honks oder Bots zitiert. Irgendjemand hat etwas gepostet. Na super. Vollkommen logisch, dass die Menschen Politik langweilig finden und lieber für abgehalfterte Reality Stars oder schlechte Komiker stimmen. Falls sie abstimmen. Denn in Ländern, wo das online passiert, sind es vielleicht Bots, die voten oder Malware aus China. Egal. Es ist alles egal geworden, weil es immer weniger gibt, das real stattfindet, das ein anderes Gefühl herstellt, außer Gereiztheit. Die Menschen schei­ nen einen Hass auf ihr Dasein zu entwickeln, wenn es außerhalb des Netzes stattfindet. De­ monstrationen zum Beispiel, oder in eine Partei einzutreten, Mahnwachen, Widerstand, all das Zeug ist unattraktiv, mühsam, außerhalb macht man nur noch Aktionen, wenn sie Gewalt und Hass beinhalten, damit sie imAnsatz ein Online­ gefühl erzeugen, oder man bleibt im Netz. Da kann man doch so großartig politisch arbeiten. In Troll-Fabriken aktiv werden, Videos oder Stimmen faken. Was macht es mit demMenschen, wenn das Ge­ hirn fragmentiert ist, die Aufmerksamkeitsspan­ ne nanosekundenlang, die Fähigkeit zum kreati­ ven Denken zerstört?Was machen 2,5Milliarden Dosen Ritalin mit dem Hirn, mit dem Gefühl – außer dass sie Depressionen fördern und auch hier wieder die Kreativität killen, weiß man noch nicht mehr. Außer dass die sechs Firmen, die das Medikament herstellen, ausgezeichnet verdient haben. Apropos. Seit jeder sich in irgendeiner Form äußert, Teil der Öffentlichkeit ist, Freunde findet, die vielleicht Bots sind, ist das Gefühl des Einzelnen, wichtig zu sein, in seltsame Größen­ ordnungen gestiegen. Jeder hat das Gefühl, die Welt kreise um ihn, sei­ ne Meinung ist wichtig, seine Bewertung kann Restaurants ruinieren, sein Kommentar demü­ tigt Politiker, seine Krankheit – die einmaligste, er hat das nachgesehen, der Mensch, er kann al­ les, der Mensch, er hat Tutorials gesehen, Klima­ wechsel – schon begriffen. Cern – alles klar, Ma­ genoperationen. Kann er selber. Komm mal her, Gertrud. Gertrud ist jetzt tot. Aber online lebt sie weiter. Second Life war der Probelauf. Jetzt sind wir alle im Second Life, hurra. Milliarden halten sich in einer neuen Welt auf, deren Grundfunktionen sie noch weniger durchschauen als die der soge­ nannten Realwelt aus Lava und Atmosphäre, sie wissen schon, das Ding da draußen. Milliarden haben keine Ahnung, wie ein Rechner funktio­ niert, Algorithmen, wie man manipulieren kann, was manipuliert wird, sie starren auf Pixel und vertrauen. Was ja eigentlich rührend ist. Der Einzelne hat die Relation seiner Bedeutung kom­ plett verloren, verloren das Gefühl, ein Wurm unter Milliarden zu sein. Das macht so wütend, so wütend, dass man im Netz das Gefühl hat, alles hinge von der eigenen bescheuerten Meinung ab. Und draußen, wenn man dann rumläuft, in Zeitlupe, mit seinem frie­ renden Körper, da bekommt man keinen Re­ spekt für sein wichtiges Sein. Was macht es mit dem Menschen, wenn nichts mehr anfassbar ist, alles vielleicht Fake, wird der Mensch dann sel­ ber zum Fake, der sich nur in die Realität zurück­ befördern kann, in dem er sich Chips in den Cortex 1 schießt? Es ist doch großartig für die Demokratie, dass jeder sich jetzt Gehör verschaffen kann. Ja nun – konnte der einzelne in demokratischen Syste­ men auch früher. Es stand jedem frei, Leserbriefe zu schreiben, Parteiarbeit zu machen, eine Zei­ tung zu gründen oder Wissenschaftlerin zu wer­ den. Es war nur einfach – anstrengender und langsamer. Und das mag keiner mehr, in der Zeit, in der jedes Bedürfnis in Sekunden erfüllt, jeder Scheiß in Sekunden rausgebrüllt werden muss. Das Denken verkümmert, weil es zu anstrengend ist. Das Mitgefühl verdorrt, weil Erregung im Netz in Sekundenbruchteilen stattfindet. Die Frustration wächst, weil das 1.0-Leben so lang­ sam und langweilig ist, und dann wählt man eben irgendeinen Stuss, der das Erregungslevel am Leben erhält, weil es bekannt ist und klingt wie Gepöbel im Netz, darum wählt man 5 Stelle, wegen Online-Partei, dann wartet man darauf, dass man endlich für sein Dasein gewürdigt wird. Das fucking Netz, einmal für Armee und Wis­ senschaft gegründet, ist zur Leni Riefenstahl der Welt geworden. Ein Ort der Verblödung, Verhet­ zung, der Manipulation und der Frustration. Was dagegen hilft sind nur Aktionen im 1.0-Da­ sein. Angebote, die zu Bewegungen werden kön­ nen, als Gegengewicht zu aus dem Netz in die 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 Schreiben 5  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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