sprachreif HUM 3, Schulbuch

82 Statt den fremden Text zu bebildern, begann sie zu den Zeichnungen eine eigene Geschichte zu erfinden. Heraus kam ein dickes, rothaariges Mädchen, das die anderen Kinder deshalb hän­ seln. Es leidet sehr darunter, bis es entdeckt, dass sein Schopf Zauberkräfte hat. Erschienen ist „Die feuerrote Friederike“ 1970. Immer misstrauisch und ehrlich Von den widerstreitenden Lagern der pädago­ gisch Konservativen und Progressiven wusste Nöstlinger da noch nichts. Doch es war die Zeit, zu der Kinder im öffentlichen Bewusstsein wich­ tig wurden – denn für die 68er-Generation wa­ ren sie die Steine zum Bau einer neuen Gesell­ schaft. Und schnell wurde Nöstlinger zur Galionsfigur einer neuen Kinderliteratur: auf­ müpfig statt betulich, wild statt brav. Ohne Zei­ gefinger, was sie aber nicht morallos machte. Illustrieren ließen die Verlage ihre Geschichten später zwar von anderen, aber 150 weitere Bü­ cher hat Nöstlinger seitdem geschrieben. Über Gretchen Sackmeier, Rosa Riedl, den Gurken­ könig oder den Franz, die Mini, den Dani Dachs – Außenseiter, die dadurch besonders werden. Nöstlingers Helden sind frech, aber sie haben immer einen „edlen Kern“, wie Nöstlinger es nannte. Denn das wollten ihre jungen Leser. Auch für Erwachsene schrieb sie. Als „Iba de gaunz oamen Leit“ erschienen etwa in den 1970ern Dialektgedichte. In einem dieser Texte beschreibt Nöstlinger schnörkellos wie immer die herrschende gesellschaftliche Enge: In einem Wiener Gemeindebau, in dem am selben Wo­ chentag um halb eins zu Mittag alle Hausfrauen am gleichen Küchenblock den gleichen Spinat aus dem Packerl kochen. Die neue Konsumkul­ tur, die Vorstellung vom kleinen Wohlstand, die noch starre Rolle der Frau als Hausfrau, soziale Normierung – alles das steckt in den wenigen Sätzen. Denn Nöstlinger merkte, dass nicht nur in punc­ to Erziehung gesellschaftlich einiges schieflief. Auch dass Frauen nicht ohne die Erlaubnis ihres Mannes arbeiten gehen durften, stieß ihr auf. Emanzipiert sei sie aber nie gewesen, sagte sie einmal. Geheiratet habe sie selbst, weil das so gang und gäbe gewesen sei. Bis 1998 erschienen in „Kurier“, „Die ganze Wo­ che“ oder „Täglich Alles“ ihre Kolumnen. Vielen waren sie zu links. Zeitweise arbeitete Nöstlinger an drei nebeneinander in ihrer Wohnung stehen­ den Schreibtischen für Rundfunk, Zeitungen und ihre Bücher. Wenn die Sätze nicht hinhauen wollten, rauchte sie. Viel. Das half. Blick in fremde Fenster Politisiert hat sie, 1936 imWiener Arbeiterbezirk Hernals geboren, ihre Kindheit. Einerseits die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit. Anderer­ seits war ihre Familie politisch wach. Der Vater, ein Uhrmacher, und die Mutter, eine Erzieherin, hatten als Sozialisten unter den Nazis gelitten. Watschen hätten sie und ihre Schwester nie be­ kommen, so Christine Nöstlinger – als einzige in der Nachbarschaft. Trotzdem war das Verhältnis zur Mutter schwierig, zum Vater umso liebevol­ ler. „Glück ist was für Augenblicke“ heißt ihre Autobiografie. Den Spruch, dass man ihre Goschen einmal ext­ ra derschlagen wird müssen, hörte sie oft von der Großmutter. Als Kind spechtelte 2 sie gerne in fremde Fenster und hörte den Leuten auf der Straße zu. Diese Nähe zum Alltag, zur echten Welt prägt ihre Geschichten. Ehrlich mussten sie sein und durften sich nicht anbiedern. Auch in der Sprache, die manchen Eltern hie und da zu deftig war. Als die Debatte über politische Korrektheit hochkochte, sprach Nöstlinger sich gegen das Streichen des Wortes „Neger“ und stattdessen für eine Erklärung aus, warum man es heute nicht mehr verwendet. Weil sie ihnen auf Augen­ höhe begegnete, traute sie Kindern mehr Ver­ nunft zu als andere Erwachsene. Für blöd dürfe man die jungen Menschen weder halten noch verkaufen. Dass man in Texte für Erwachsene nie so „reinpfuschen“ würde wie in Kinderlitera­ tur, sah Nöstlinger als Bestätigung dafür, dass Jugendbücher für die meisten nicht mehr seien als „Pädagogikpillen, gewickelt in buntes Ge­ schichterlpapier“. Sie pflegte die „Zivilisationshaut“ Von einer „Zivilisationshaut“ des Menschen sprach die Autorin 2015 in ihrer Rede im Parla­ ment zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen: „Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem wie sie gepflegt und gehegt wird. 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 Lesen 3  Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv

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