sprachreif HUM 3, Schulbuch

80 Christine Nöstlinger: Maikäfer, flieg! 1. Das Haus Die Großmutter • Der Radiokuckuck Die Hannitante Silberne Perlenketten vom Himmel Ich war acht Jahre alt. Ich wohnte in Hernals. Hernals ist ein Bezirk von Wien. Ich wohnte in einem grauen, zweistöckigen Haus. Im Parterre, die letzte Tür. Hinter dem Haus war ein Hof. Mit Abfallkübeln, mit einer Klopfstange und einem Hackstock. Und hinten im Hof, an der Klofens­ termauer, stand ein Zwetschkenbaum. Aber Zwetschken waren nie auf ihm. Unter unserem Haus war ein Keller. Der größte und beste Keller im ganzen Häuserblock. Gute Keller waren wichtig. Gute Keller waren wichti­ ger als schöne Wohnzimmer und vornehme Schlafzimmer. Wegen der Bomben. Es war Krieg. Es war schon lange Krieg. Ich konnte mich über­ haupt nicht daran erinnern, dass einmal kein Krieg gewesen war. Ich war den Krieg gewohnt und die Bomben auch. Die Bomben kamen oft. Einmal habe ich die Bomben gesehen. Ich war bei meiner Großmutter. Die wohnte auch in un­ serem Haus. Im Parterre, die erste Tür. Die Großmutter war schwerhörig. Ich saß mit der Großmutter in der Küche. Die Großmutter schälte Erdäpfel und schimpfte auf die Erdäpfel und auf den Krieg. Sie sagte, vor dem Krieg hätte sie der Gemüsefrau solche dreckigen, fleckigen Erdäpfel an den Kopf geschmissen. Die Groß­ mutter zitterte vor Wut über die schwarzflecki­ gen Erdäpfel. Die Großmutter zitterte oft vor Wut. Sie war eine wilde Frau. Neben der Großmutter, auf der Küchenkredenz, stand das Radio. Das Radio war ein Volks­ empfänger, ein kleiner schwarzer Kasten mit ei­ nem einzigen, roten Knopf. Der war zum An­ stellen, Abstellen, zum Leiserdrehen und zum Lauterdrehen. Der Volksempfänger spielte Marschmusik, dann hörte die Marschmusik auf, eine Stimme sagte: »Achtung, Achtung! Feind­ liche Kampfverbände im Anflug auf Stein am Anger!« Nachher war keine Marschmusik mehr. Die Großmutter schimpfte weiter auf die Erdäpfel und den Krieg; jetzt auch auf den Blockwart. Sie war ja schwerhörig. Sie hatte die Durchsage im Radio nicht verstanden. Ich sagte: »Großmutter, die Flieger kommen.« Ich sagte es nicht sehr laut. Ich sagte es so, dass es die Großmutter nicht hörte. Wenn die Flieger erst in Stein am Anger waren, war es nämlich noch gar nicht sicher, ob sie nach Wien flogen. Sie konnten noch woan­ dershin abbiegen. Ich wollte nicht umsonst in den Keller laufen. Die Großmutter rannte immer schon in den Keller, wenn die Flugzeuge in Stein am Anger waren. Sonst, wenn meine Mutter oder meine Schwester oder mein Großvater zu Hause waren und ihr sagten, dass die Flieger kommen. Die Flieger bogen nicht ab. Kreischend kam es jetzt aus dem Volksempfänger: »Kuk kuk kuk kuk kuk kuk ...« Das war das Zeichen, dass die Bombenflugzeuge auf Wien zuflogen. Ich ging zum Fenster. Auf der Gasse lief die Hannitante. Die Hannitante war eine alte Frau. Sie wohnte drei Häuser weiter und der Krieg und die Bomben hatten sie ver­ rückt gemacht. Unter dem einen Arm trug die Hannitante ein hölzernes Klappstockerl, unter dem anderen Arm trug sie eine zusammenge­ rollte karierte Decke. Die Hannitante lief und rief dabei: »Der Kuckuck schreit! Leut, der Ku­ ckuck schreit!« So rannte sie bei jedem Bombenangriff um den Häuserblock, immer wieder rund um den Häu­ serblock. Sie wollte einen sicheren Keller finden. Aber kein Keller war ihr sicher genug. Sie rannte keuchend, zitternd, »kuckuck« schreiend, bis der Bombenangriff vorüber war. Dann ging sie nach Hause, klappte gleich hinter der Wohnungstür das Klappstockerl auf, setzte sich, legte die ka­ rierte Decke auf die Knie und wartete, bis der Radiokuckuck wieder zu schreien anfing. Die Hannitante lief also am Küchenfenster der Großmutter vorbei und gleich darauf begannen die Sirenen zu heulen. Die Sirenen waren auf den Häuserdächern und heulten scheußlich. Das Sirenengeheul hieß: Die Flieger sind da! 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 Lesen 3  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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