sprachreif HUM 3, Schulbuch

59 •• Klären Sie, wofür Vater, Söhne, Ringe im übertragenen Sinne stehen. •• Versuchen Sie, die Ringparabel zu deuten. Besprechen Sie die Ergebnisse im Plenum. Infobox: Ringparabel und Parabel Die Ringparabel ist Teil des dramatischen Gedichts Nathan der Weise (1779) von Gotthold Ephraim Lessing. Sie gilt als Schlüsseltext der Aufklärung. Eine Parabel ist eine lehrhafte, mit dem Gleichnis verwandte, Geschichte. Eine Parabel hat zwei Ebenen: die Handlungsebene (die anschaulich erzählte Geschichte) und die Deutungsebene (was im übertragenen Sinne gemeint ist). Lessing hat die Ring­ parabel übrigens nicht erfunden, sondern bearbeitete sie neu. Sie findet sich zum Beispiel bereits in einem Werk von Giovanni Boccaccio (1313–1375) aus dem 14. Jahrhundert. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise SALADIN: […] Da du nun So weise bist: so sage mir doch einmal – Was für ein Glaube, was für ein Gesetz Hat dir am meisten eingeleuchtet? NATHAN: Sultan, Ich bin ein Jud’. SALADIN: Und ich ein Muselmann. Der Christ ist zwischen uns. – Von diesen drei Religionen kann doch eine nur Die wahre sein. – Ein Mann, wie du, bleibt da Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt Ihn hingeworfen; oder wenn er bleibt, Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern. Wohlan! So teile deine Einsicht mir Denn mit. Lass mich die Gründe hören, denen Ich selber nachzugrübeln nicht die Zeit Gehabt. Lass mich die Wahl, die diese Gründe Bestimmt – versteht sich, im Vertrauen – wissen, Damit ich sie zu meiner mache. […] NATHAN: Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten, Der einen Ring von unschätzbarem Wert Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, Dass ihn der Mann in Osten darum nie Vom Finger ließ und die Verfügung traf, Auf ewig ihn bei seinem Hause zu Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring Von seinen Söhnen dem geliebtesten Und setzte fest, dass dieser wiederum Den Ring von seinen Söhnen dem vermache, Der ihm der liebste sei: und stets der liebste, Ohn’ Ansehn der Geburt, in Kraft allein Des Rings das Haupt, der Fürst des Hauses werde. […] So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn, Auf einen Vater endlich von drei Söhnen, Die alle drei ihm gleich gehorsam waren, Die alle drei er folglich gleich zu lieben Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald Der Dritte – sowie jeder sich mit ihm Allein befand und sein ergießend Herz Die andern zwei nicht teilten – würdiger Des Ringes; den er denn auch einem jeden Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen. Das ging nun so, solang’ es ging. – Allein Es kam zum Sterben, und der gute Vater Kommt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort Verlassen, so zu kränken. – Was zu tun? – Er sendet insgeheim zu einem Künstler, Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, Zwei andere bestellt und weder Kosten Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, Kann selbst der Vater seinen Musterring Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft Er seine Söhne, jeden insbesondre; Gibt jedem insbesondre seinen Segen, – Und seinen Ring – und stirbt. – Du hörst doch, Sultan? SALADIN (der sich betroffen von ihm gewandt) : Ich hör’, ich höre! – Kommmit deinemMärchen Nur bald zu Ende. – Wird’s? NATHAN: Ich bin zu Ende. Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. Kaum war der Vater tot, so kommt ein jeder Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst Eine literarische Erörterung schreiben Schritt 1: Planen Schreiben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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