sprachreif HUM 3, Schulbuch

35 verläuft dort, wo es jemandem nicht darum geht, einen Beitrag zur Diskussion zu leisten, son- dern die Ehre eines anderen Menschen anzugreifen. Drei Kriterien gibt es, um diese Grenze zu ziehen: Das erste Kriterium ist: Wie ich etwas sage. Klassische Schimpf- wörter sind immer Beleidigun- gen. Sage ich „Mein Nachbar ist ein Arschloch“, braucht ein Ge- richt nicht erst vorsichtig zu er- forschen, was genau ich damit ausdrücken wollte. […] Das bedeutet nicht, dass ich meine Meinung immer höflich und sachlich formulieren muss, denn hier kommt das zweite Kriterium ins Spiel: Wo ich et- was sage. In einer öffentlichen Diskussion gehen Meinungen leicht unter. Um die Aufmerk- samkeit tobt ein Kampf, daher darf ich auch „Kampfbegriffe“ benutzen. Ich darf zuspitzen, übertreiben, polemisch sein. Ein starkes Wort wie „Mörder“ kann in der öffentlichen Dis- kussion gerechtfertigt sein. […] Entscheidend ist das dritte Kriterium: Auf wen ich etwas beziehe. Je weiter meine Aussa- ge von einem konkreten Men- schen entfernt ist, desto heftiger darf meine Wortwahl ausfallen. Denn desto eher kritisiere ich ein soziales Phänomen und des- to weniger greife ich eine kon- krete Person in ihrer Ehre an. Das heißt nicht, dass ich über eine Gruppe alles sagen darf. Wer so gegen eine Gruppe Stimmung macht, dass er damit den Frieden im Land gefährdet, kann sich wegen Volksverhet- zung strafbar machen. Dies ist der Fall, wenn die Person zu Hass oder Gewalt anstachelt oder die Menschen in dieser Gruppe nicht nur kritisiert, sondern sie regelrecht als Un- termenschen behandelt, ihnen also die Menschenwürde ab- spricht. Eine Stufe harmloser kann man Menschen in Gruppen auch „normal“ beleidigen. Das setzt voraus, dass die Gruppe über- schaubar ist. Schreibt jemand im Internet „Alle Männer sind Idioten“, kann kein Mann die Aussage ernsthaft auf sich per- sönlich beziehen. Anders ist es, wenn ich über „die deutschen Ärzte“ oder „die deutschen Richter“ spreche. So viele gibt es davon nicht, und wegen ihrer Berufskleidung sind ihre Mit- glieder gut abgrenzbar. Sie kön- nen als Gruppe beleidigt wer- den. Das Gleiche gilt für die aktiven Soldaten der Bundes- wehr. Der Aufkleber amAuto des Stu- denten richtete sich aber nicht gegen die Soldaten der Bundes- wehr, denn die waren im Golf- krieg nicht im Einsatz. Das Bundesverfassungsgericht wer- tete sein „Soldaten sind Mör- der“ als allgemeine Aussage über das Töten im Krieg. […] Woher kamen also die Tu- multe? Viele hatten es so gedeu- tet, als hätten die Richterinnen und Richter die Aussage „Sol- daten sind Mörder“ inhaltlich gebilligt. Weil eine Meinung aber nicht „richtig“ oder „falsch“ sein kann, sind vor dem Grundge- setz alle Meinungen gleich. Nur so ist sichergestellt, dass der Staat nicht als Meinungswäch- ter auftritt. Es ist egal, ob ich für meine Meinung 30 Jahre re- cherchiert und gute Argumente gesammelt habe – oder ob ich sie am Stammtisch vor mich hin lalle. Jeder darf eine Meinung haben, ohne nachzudenken, ohne sie zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb nicht darüber ent- schieden, ob Soldaten um- gangssprachlich „Mörder“ sind. Das ist auch nicht seine Aufga- be. Es kann nur darüber ent- scheiden, ob jemand sagen darf, sie seien Mörder. Auch eine In- ternetseite, Redaktion oder Be- hörde, die jemanden eine Aus- sage machen lässt, stimmt dieser Aussage nicht zu. Sie ach- tet nur die Meinungsfreiheit. Dass ich eine Meinung haben und äußern darf, bedeutet aber umgekehrt nicht, dass jede Re- daktion sie auch veröffentlichen muss. Die Meinungsfreiheit richtet sich in erster Linie gegen den Staat. Ein Recht auf ein Dis- kussionsforum unter jedem Ar- tikel gibt es nicht. Jedes Medi- um entscheidet autonom, was es veröffentlicht und was nicht, schließlich ist es für die Inhalte verantwortlich. Nach dem Grundgesetz kann jeder Quatsch eine geschützte Meinung sein. Die Kehrseite ist: Wenn es so leicht ist, eine Mei- nung zu äußern, ist die einzelne Meinung weniger wert, als wir manchmal denken. Jeder kann spontan die Gegenmeinung vertreten, die vor dem Grund- gesetz genauso schwer wiegt. Anders, als wir das gelegentlich hören, ist es in einem Land mit Meinungsfreiheit selten schwie- rig oder gar „mutig“, eine Mei- nung zu äußern. Wichtig ist es trotzdem. ¹ Stadt in Deutschland QUELLE: http://www.spiegel.de/panorama/meinungsfreiheit-was-darf-ich-sagen-und-was-nicht-a-1074146.html ; (abgerufen am 01.02.2016; redaktionell bearbeitet) Anmerkung: Die im Artikel genannten gesetzlichen Bestimmungen beziehen sich auf die Bundesrepublik Deutschland. 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 216 218 220 222 224 226 228 230 232 234 236 238 240 242 244 246 248 250 252 254 256 258 260 262 Lesen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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