sprachreif HUM 3, Schulbuch

27 school-Liebe und merkt, dass das Leben Geld kostet. Sie schlägt sich durch, lässt sich auf Dates ein, wird selbst zumHäschen eines Sugar-Daddy – größere Brüste müssen her. Die lassen sich in L. A. schnell machen, auch wenn es weh tut. Das blonde Mädchen in der großen Stadt will nicht mehr für ein Dummchen gehalten werden und geht deshalb wieder als Brünette durchs Leben. Sie wird depressiv, drogenabhängig, tanzt zwi­ schenzeitlich an der Stange, Nervenzusammen­ bruch, Rehab, Yoga, Avocado-Toast, neuer Boy­ friend. Alles gut, ausatmen. Was nach dem Drehbuch einer Netflix-Serie klingt (oder doch eher wie deren Adaption im deutschen Privatfernsehen) ist in ungefähr das Skript zur Performance „Excellences & Perfec­ tions“ der Künstlerin Amalia Ulman. Die Arbeit ist schon etwas älter, bedenkt man den Ort, an dem sie zuerst gezeigt wurde. Zwischen dem 19. April und dem 14. September 2014 postete Ama­ lia Ulman auf Instagram und Facebook knapp 180 Beiträge, die den vermeintlichen Aufstieg und Fall eines Mädchens dokumentieren, das auszog, um ein It-Girl mit Modelvertrag zu wer­ den. Erst als die Geschichte zu Ende erzählt und damit auch die Performance abgeschlossen war, löste Ulman auf. Über das Bild einer Rose, ein Schwarz-Weiß-Foto, schrieb sie „The End – Excellences & Perfections“, darunter postete sie ein blaues Herz. Und wenn sie jemand gefragt hätte, wofür sie steht, hätte sie sicherlich Amore gesagt. Aber das hätte ihr nicht geholfen. Einige ihrer Follower reagierten verständnislos, waren empört und schrieben später in Magazi­ nen, wie wütend sie gewesen seien, dass sie von ihr erfolgreich getrollt wurden. Sie sahen zu, ohne Verdacht zu schöpfen. Weil die Performan­ ce so nah an der Lebensrealität der sozialen Netzwerke war, sich ihrer Verhaltenscodes, Aus­ drucksweise samt passender Hashtags und Bild­ sprache bediente. Die Leute waren sauer, weil sie einer Fiktion erlagen, weil die Geschichte, die ihnen vier Monate lang erzählt wurde, nicht der Wahrheit entsprach. Dabei, und das ist die Kern­ aussage von Ulman: Jeder ist online ein Lügner. Den Voyeuren vor den Smartphones wäre es lie­ ber gewesen, Amalia Ulman wäre nur ein weite­ res der hot babes auf Instagram. Dann nämlich wäre alles weiter gegangen wie bisher. So aber endete das Drama nach drei Akten, der Vorhang fiel, das Licht ging an und der Zuschauer war auf sich selbst zurückgeworfen. Ulman hatte ihre Performance tatsächlich als Dreiakter angelegt, sie selbst spricht in Inter­ views von Episoden. Auf Instagrammarkiert den Beginn ein Posting, das in Großbuchstaben „Part I“ ankündigt, in der Bildunterschrift steht „Excellences & Performances“. Vielleicht war zu irgendeinem Zeitpunkt geplant, auch auf Teil zwei und drei hinzuweisen, aber damit wäre sie sicherlich aufgeflogen. Ihr virtuelles Alter Ego macht in den vier Monaten all das durch, was in den sozialen Netzwerken sonst auch passiert, nur eben nicht in so kurzer Zeit und nicht unbedingt einer einzigen Person. Während der Entstehung der Arbeit war das Atelier der Künstlerin ihr Smartphone, sie sah sich auf Tumblr, Facebook und Instagram um, beobachtete, wie Mädchen und Frauen sich in den sozialen Netzwerken prä­ sentieren und griff all die Stereotypen auf, die sie ausmachte. Das brave Mädchen von nebenan, das ständig seine frisch lackierten Finger ins Bild hält, nach dem Aufstehen verschlafen vor dem Spiegel im OOTD, dem Outfit of the Day, steht und allen einen ganz zauberhaften gutenMorgen wünscht, den Kaffee fürs Foto mit Blüten und Blättern ver­ ziert und im Bett nur ein kleines putziges Kätz­ chen liegen hat. Nach dem Umzug in die große Stadt wird aus dem lieben Nachbarskind ein hot babe, das etwas zu lang Kim Kardashian auf Ins­ tagram folgte. Das Geld für den entsprechenden Lifestyle und Körper fehlt? Dann müssen eben ein Sugar Daddy und eine Brustvergößerung her, den Rest bringt regelmäßiges Workout. Dass das nicht lange gut gehen kann, ist zumin­ dest in dieser fiktiven Biografie programmiert. Denn schließlich muss sich der Konflikt zuspit­ zen und zur Lösung führen. Also stürzt das hot babe ab, das sich irgendwann zwischen den vie­ len Dates, dem Posen vor dem Spiegel und dem 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 Reflexion Medien Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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