sprachreif HUM 3, Schulbuch

197 der Kriegsberichterstattung ganz neue Perspekti- ven, insbesondere für den Journalismus. Statt sich auf soziale Medien und auf brandaktuelle Nachrichten aus Kriegsgebieten zu fixieren, die ohnehin kaum überprüfbar sind, sollte über we- niger Dinge intensiver berichtet werden. Eine neue Kultur des Hintergrundjournalismus, der auf echtes Weltwissen statt auf schnelle Informa- tion setzt, würde der kritischen Öffentlichkeit dienlich sein. Mehr Analyse statt reine Fakten- vermittlung und die intensive Diskussion der internationalen Hintergründe von Regionalkon- flikten würden den Bürger als analytisches We- sen ernst nehmen und ihn ins Boot holen. Frustration im Angesicht der Globalisierung Es ist kein Zynismus, wenn man infrage stellt, ob es wirklich so wichtig ist, wie oft und wann ge- nau Assad Giftgas verwendet. Ein Regime ist zu verurteilen, das sein Land zerbombt. Punkt. Die Frage, die uns neben den Fakten des Krieges viel mehr beschäftigen sollte, ist, wie man aus der Ka- tastrophe wieder herauskommt. Es wäre zu be- grüßen, wenn alternative Friedenslösungen ins Zentrum der öffentlichen Debatte rückten. Die Friedensforschung könnte stärker Beachtung finden. Soll der Journalismus sich wirklich mit der Rolle eines Chronisten des Todes zufrieden- geben, statt den Versuch zu unternehmen, den Frieden mitzugestalten? So schmerzhaft es ist, sich von gewalttätigen Fa- natikern die Agenda bestimmen lassen zu müs- sen: Auch die Terrorismusdebatte muss neu ge- stiftet werden. Die Gründe für die Entstehung des IS gehen in hohem Maß auf das Fehlverhal- ten westlicher Großmächte zurück, die im Irak ein Machtvakuum entstehen ließen. Zwar exis- tieren konfessionelle Rivalitäten zwischen Sun- niten, Schiiten und Kurden seit Jahrhunderten. Aber genau diese Bruchlinien hat das amerikani- sche Besatzungsregime nach 2003 absichtsvoll gefördert, als es das irakische Militär sowie die zentrale Baath-Partei auflöste und die religiösen und ethnischen Gruppen gegeneinander aus- spielte. Verstehen, wie der Terror entstand Wie Syrien heute ein Stellvertreterkrieg von Großmächten ist, war und ist auch der Irak ein Schauplatz eines geostrategischen Wettrennens. Die Narration, wonach einige Terroristen durch die Attentate des 11. September 2001 oder George W. Bush den Irak-Krieg auslösten, greift viel zu kurz. Um eine erfolgreiche Strategie gegen den Terror in Nahost und überall auf der Welt entwickeln zu können, muss man seine Entste- hungsursachen begreifen, statt nur auf die tägli- chen Geländegewinne oder -verluste des IS zu starren. Wenn Information und Desinformation kaum noch zu unterscheiden sind und wenn auch die sicherste Information noch keinWissen ist, dann ist die Kehrseite einer schnelllebigen Kriegsbe- richterstattung die Tatsache, dass der Rezipient die Welt zunehmend als ein unverständliches Chaos wahrnimmt. Die Folgen sind Frustration im Angesicht der Globalisierung und ein Rück- zug ins nationale Schneckenhaus. Brexit und Rechtspopulismus sind möglicherweise nur die Vorboten. Medien, die keine Mitverantwortung für Politikverdrossenheit übernehmen wollen und Friedensjournalismus auf ihre Fahnen schreiben, müssen sich von der Illusion einer besseren Welt durch neue Medientechnologien befreien und eine neue journalistische Kultur be- gründen. Ressourcen qualitativ zu optimieren sollte dem Journalismus auch in Zeiten der Pressekrise möglich sein. Statt zu viel Zeit, Geld und Perso- nal nur für das Durchsuchen des Internets nach Informationen von zweifelhaftem Erkenntnis- wert zu verschwenden, wäre es wünschenswert, dass sich Medien auf alte Tugenden eines analy- tischen Feature-Journalismus besinnen. Eigene Recherche und kompetente Analyse müssten höher bewertet werden. Dann, und auch nur dann wird dies eine schöne neue Medienwelt sein. PROF. DR. KAI HAFEZ ist Professor für interna- tionale und vergleichende Kommunikation an der Universität Erfurt. QUELLE: https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-10/kriegsberichterstattung-soziale-medien-cyberwar-qualitaet/komplettansicht ; (abgerufen am 20.08.2018) 1 Die Rezeptionsforschung beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Wirkung von Massenmedien. 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 216 218 220 222 224 226 228 230 232 234 236 238 240 242 244 246 248 250 252 254 256 258 260 262 264 266 268 270 Reflexion Medien Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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