sprachreif HUM 3, Schulbuch

195 Kriegsberichterstattung: Konsumenten schwarzer Propaganda Ein Gastbeitrag von Kai Hafez | 28.10.2016 Nie hatten wir mehr Informationen über Kriege und Krisen als heute. Trotzdem sind Wahrheit und Lüge kaum auseinanderzuhalten. Die Folgen sind Frustration und Rückzug. Der Aufschrei war groß, als während des zweiten Golfkriegs von 1991 Amerikaner und Briten In- formationen über ihren Feldzug derart zensier- ten, dass die Medien kein einziges Bild über die Zigtausenden Opfer dieses Krieges veröffentli- chen konnten. Journalisten in Deutschland und die Wissenschaft weltweit warnten vor der tota- len Irreführung der demokratischen Öffentlich- keit. Deutsche Zeitungen trugen eine Art Trauer- flor auf der Titelseite nach dem Motto: „Wir werden zensiert.“ Seitdem hat sich scheinbar vieles verändert. In dem seit einem Vierteljahrhundert währenden Prozess hat sich die Zahl der Medienkanäle ver- vielfacht, über die wir Informationen aus Kriegs- gebieten erhalten. Eine vollständige Zensurab- schottung wie 1991 ist heute nicht mehr möglich. Zunächst konnte sich weltweit dank des direkt empfangbaren Satellitenrundfunks das Fernse- hen durchsetzen. Die Bilder des arabischen Sen- ders Al-Jazeera vomKrieg in Afghanistan gingen seit 2001 um die Welt. Im Irak-Krieg 2003 schließlich war Bagdad voller internationaler Korrespondenten. Seit durch soziale Medien Bilder, Videos und Texte aus allen Kriegsgebieten geliefert werden, scheinen die Zeiten endgültig vorbei zu sein, in denen die Mächtigen Medien und Menschen manipulieren konnten. Die Vielzahl der Ama- teurjournalisten lässt sich nicht mehr kontrollie- ren. Moderne Medientechnik liefert seitdem scheinbar in Echtzeit authentische Kriegs- und Opferbilder. Aus der Informationsunterversor- gung von einst ist eine Informationssättigung geworden. Schöne neue Medienwelt – oder doch nicht? Wir verfügen heute zwar über mehr Informatio- nen, aber lange noch nicht über mehr Wissen über den Krieg. Unabhängigkeit und Macht der Medien sind trotz neuer Medientechnik keines- wegs gewachsen, und das hat unterschiedliche Gründe. Zunächst einmal werden die neuen di- gitalen Kanäle im Zeitalter des Cyberkriegs von allen beteiligten Kräften – also auch von den kriegstreibenden Parteien – bespielt. Amerika- ner, Russen, der IS – sie alle sind längst auf Twit- ter und Facebook unterwegs, geschickt getarnt mit Amateurbeiträgen. Ein Wettlauf zwischen echter Information und propagandistischer Des- information lässt auch Experten oft verzweifeln. Bilderfälschungen zumBeispiel sind kaum nach- weisbar. Wahrheit und Lüge sind vor allem unter dem Zeitdruck der täglichen Berichterstattung kaum auseinanderzuhalten. Kriegsführenden gelingt es heute zwar nicht mehr, das Schlachtfeld abzuschotten. Durch PR, bei der jede Seite ihre oft völlig haltlosen Lügen verbreitet, wird allerdings die Öffentlichkeit ver- unsichert. Der Bürger wird zur Passivität, zum Konsumenten von schwarzer Propaganda degra- diert. Wie soll man Politiker zum Friedenshan- deln auffordern, wenn die Faktengrundlage da- für fehlt? Der Preis ist die Apathie der Bürger Die Mutter der modernen Kriegslüge war die so- genannte Brutkastenstory während des Golf- kriegs von 1991, bei der eine angebliche Kran- kenschwester, die sich später als Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA erwies, vor dem amerikanischen Kongress schwor, iraki- sche Soldaten hätten Babys in Krankenhäusern ermordet. Eine inflationäre Zunahme an Propa- ganda war dann während des Irak-Kriegs von 2003 zu beobachten, als nicht nur Saddam Hussein, sondern auch Amerikaner und Briten die Öffentlichkeit systematisch über (nicht exis- tente) Massenvernichtungswaffen, (fiktive) Gif- tanschläge der Iraker, (nie nachgewiesene) Ver- bindungen des Iraks zu Osama bin Laden und vieles andere täuschten. Für die betroffenen Politiker haben diese Mani- pulationen nie ernsthafte, schon gar keine recht- lichen Folgen gehabt. Seitdem gibt es an der 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 Reflexion Medien Nur zu Prüfzwec en – Eigentum des Verlags öbv

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