sprachreif HUM 3, Schulbuch

192 boten wurde, war in Wahrheit präpariertes Pa- pier, Ersatz eines Ersatzes; die Männer schlichen fast ausschließlich in alten, sogar russischen Uniformen herum, die sie aus einem Depot oder einem Krankenhaus geholt hatten und in denen schon mehrere Menschen gestorben waren; Ho- sen, aus alten Säcken gefertigt, waren nicht sel- ten. Jeder Schritt durch die Straßen, wo die Aus- lagen wie ausgeraubt standen, der Mörtel wie Grind von den verfallenen Häusern herabkrü- melte und die Menschen, sichtlich unterernährt, sich nur mühsam zur Arbeit schleppten, machte einem die Seele verstört. Besser stand es am fla- chen Lande mit der Ernährung; bei dem allge- meinen Niederbruch der Moral dachte kein Bauer daran, seine Butter, seine Eier, seine Milch zu den gesetzlich festgelegten „Höchstpreisen“ abzugeben. Er hielt, was er konnte, in seinen Speichern versteckt und wartete, bis Käufer mit besserem Angebot zu ihm ins Haus kamen. Bald entstand ein neuer Beruf, das sogenannte „Hamstern“. Beschäftigungslose Männer nah- men ein oder zwei Rucksäcke und wanderten von Bauer zu Bauer, fuhren sogar mit der Bahn an besonders ergiebige Plätze, um illegal Le- bensmittel aufzutreiben, die sie dann in der Stadt zum vierfachen und fünffachen Preise ver- hökerten. Erst waren die Bauern glücklich über das viele Papiergeld, das ihnen für ihre Eier und ihre Butter ins Haus regnete, und das sie ihrer- seits „hamsterten“. Sobald sie aber mit ihren vollgestopften Brieftaschen in die Stadt kamen, um dort Waren einzukaufen, entdeckten sie zu ihrer Erbitterung, daß, während sie für ihre Le- bensmittel nur das Fünffache verlangt hatten, die Sense, der Hammer, der Kessel, den sie kau- fen wollten, unterdes um das Zwanzigfache oder Fünfzigfache im Preise gestiegen war. QUELLE: Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-welt-von-gestern-6858/1 (abgerufen am 28.04.2016) Verfassen Sie einen autobiografischen Text über die Zeit, in der Sie leben (Die Welt von heute) und gehen Sie dabei auf gesellschaftspolitische Themen ein (z. B. Lebensstandard und -qualität, politische Verhältnisse, Bildung, Arbeit, Wohnen, Sicherheit). Orientieren Sie sich an Zweigs Text und übertragen Sie diesen auf Ihre Lebenswelt. Lesen Sie in Ihrem Literaturgeschichte-Lehrwerk den Abschnitt über die österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit und notieren Sie die Namen der Autorinnen und Autoren, die Sie finden. Mit welchen Themen setzen sich diese auseinander? Lesekreis Ein Lesekreis besteht aus vier bis sechs Personen, die ein literarisches Werk innerhalb einer vorgegebenen Zeitspan- ne (etwa ein bis zwei Wochen) lesen. Ein Zusammentreffen dieser Gruppe soll in Diskussionsform im Wesentlichen folgende Fragen erörtern: •• Welche Erwartungen an den Text wurden (nicht) erfüllt? •• Wie wirkt der Text auf mich und wie könnte der Text auf Zeitgenossen gewirkt haben? •• Gibt es eine zentrale Problemstellung/einen zentralen Konflikt? •• Welche Bedeutung hat dieser Konflikt für die Leserin/ den Leser? •• Wie ist das Verhalten/das Handeln der/des Protagonisten zu beurteilen? •• Welche Schlüsse können daraus gezogen werden in Bezug auf die Bedeutung des Werks? Wählen Sie mithilfe Ihres Literaturgeschichte-Lehrwerks und Ihrer Lehrkraft einige literarische Werke aus der Zwischenkriegszeit aus. Bilden Sie Lesekreise und sprechen Sie über diese Werke. Informieren Sie sich über die Inhalte eines anderen Lesekreises Ihrer Mitschülerinnen/Ihrer Mit­ schüler. A35  A36  Tipp C A37  C A38  14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Reflexion Literatur 6  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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