sprachreif HUM 3, Schulbuch
191 Schreiben zwischen den Kriegen Epik Sehen Sie sich in der Klasse den Film „Vor der Morgenröte“ an, der Stefan Zweigs (1881–1942) Jahre im Exil behandelt. Lesen Sie den Auszug aus Die Welt von Gestern von Stefan Zweig. Welchen Eindruck vermittelt der Text von der Zeit der Monarchie? Analysieren Sie inhaltlich und sprachlich, wie dieser Eindruck zustande kommt. Erklären Sie, inwiefern es sich um das „Zeitalter der Vernunft“ für den Erzähler handelt. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Die Rechte, die er seinen Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Ver- tretung des Volkes, und jede Pflicht genau be- grenzt. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und ver- bürgte damit ihre Unwandelbarkeit. Jeder wuss te, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht. Wer ein Vermögen besaß, konnte genau errechnen, wieviel an Zinsen es alljährlich zubrachte, der Beamte, der Offizier wiederum fand im Kalen- der verlässlich das Jahr, in dem er avancieren werde und in dem er in Pension gehen würde. Jede Familie hatte ihr bestimmtes Budget, sie wusste, wieviel sie zu verbrauchen hatte für Wohnen und Essen, für Sommerreise und Re- präsentation, außerdem war unweigerlich ein kleiner Betrag sorgsam für Unvorhergesehenes, für Krankheit und Arzt bereitgestellt. Wer ein Haus besaß, betrachtete es als sichere Heimstatt für Kinder und Enkel, Hof und Geschäft vererb- te sich von Geschlecht zu Geschlecht; während ein Säugling noch in der Wiege lag, legte man in der Sparbüchse oder der Sparkasse bereits einen ersten Obolus für den Lebensweg zurecht, eine kleine „Reserve“ für die Zukunft. Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kai- ser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ord- nung. Niemand glaubte an Kriege, an Revolutio- nen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewalt- same schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft. QUELLE: Zweig, Stefan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-welt-von-gestern-6858/1 (abgerufen am 28.04.2016) Lesen Sie den zweiten Auszug aus Die Welt von Gestern von Stefan Zweig. Vergleichen Sie Inhalt und Sprache des ersten und zweiten Auszuges. …zum erstenmal sah ich einer Hungersnot in die gelben und gefährlichen Augen. Das Brot krümelte sich schwarz und schmeckte nach Pech und Leim, Kaffee war ein Absud von gebrannter Gerste, Bier ein gelbes Wasser, Schokolade ge- färbter Sand, die Kartoffeln erfroren; die meisten zogen sich, um den Geschmack von Fleisch nicht ganz zu vergessen, Kaninchen auf, in unse- rem Garten schoß ein junger Bursche Eichhörn- chen als Sonntagsspeise ab, und wohlgenährte Hunde oder Katzen kamen nur selten von länge- ren Spaziergängen zurück. Was an Stoffen ange- Tipp A33 A34 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 2 4 6 8 10 12 Buchcover zu Die Welt von gestern , Ausgabe 1946 Reflexion Literatur Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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