sprachreif HUM 3, Schulbuch

181 Man kann sich die Frage vorlegen: Wieso verliert der Mensch in Friedenszeiten, während welcher die staatliche Gemeinschaft fast jede Äußerung viriler Rauflust unterdrückt, nicht die Eigenschaften und Triebfedern, welche ihn während des Krieges zumMassenmord befähigen? Damit scheint es sich mir so zu verhalten. Wenn ich in ein gutes normales Bürgergemüt hineinsehe, erblicke ich einen mä- ßig erhellten, gemütlichen Raum. In einer Ecke desselben steht ein wohlgepflegter Schrein, auf den der Hausherr sehr stolz ist und auf den jeder Beschauer sogleich mit lauter Stimme hingewiesen wird; darauf steht mit großen Lettern das Wort „Patriotismus“ geschrie- ben. Diesen Schrank zu öffnen ist aber für gewöhnlich verpönt. Ja der Hausherr weiß kaum oder gar nicht, dass sein Schrank die mo- ralischen Requisiten des tierischen Hasses und Massenmordes birgt, die er dann im Kriegsfalle gehorsam herausnimmt, um sich ihrer zu bedienen. Diesen Schrein, lieber Leser, findest Du in meinem Stüb- chen nicht, und ich wäre glücklich, wenn Du Dich der Ansicht zu- wenden möchtest, dass in jene Ecke Deines Stübchens ein Klavier oder ein kleiner Bücherkasten besser hineinpasste als jenes Möbel, das Du nur darum erträglich findest, weil Du von Jugend an daran gewöhnt worden bist. – Es liegt mir ferne, aus meiner internationa- len Gesinnung ein Geheimnis zu machen. Wie nahe mir ein Mensch oder eine menschliche Organisation steht, hängt nur davon ab, wie ich deren Wollen und Können beurteile. Der Staat, dem ich als Bür- ger angehöre, spielt in meinem Gemütsleben nicht die geringste Rolle; ich betrachte die Zugehörigkeit zu einem Staate als eine ge- schäftliche Angelegenheit, wie etwa die Beziehung zu einer Lebens- versicherung. Wie soll aber das ohnmächtige Einzelgeschöpf zur Erreichung dieses Zieles beitragen? Soll etwa jeder einen beträchtlichen Teil seiner Kräfte der Politik widmen? Ich denke wirklich, dass die geistig reiferen Menschen Europas sich durch Vernachlässigung der allgemeinen politischen Fragen versündigt haben; aber ich sehe in der Pflege der Politik nicht die wichtigste Wirksamkeit des Einzelnen in dieser Angelegenheit. Ich glaube vielmehr, jeder Einzelne sollte in dem Sinne persönlich wirken, dass jene Gefüh- le, von denen ich vorhin sprach, nach Möglichkeit in solche Bah- nen gelenkt werden, dass sie nicht mehr der Allgemeinheit zum Fluche gereichen können. Jeder Mensch sollte sich ohne Rücksicht auf Worte und Taten an- derer im Vollbesitz seiner Ehre fühlen, wenn er das Bewusstsein hat, nach bestemWissen und Können zu handeln; Verletzung der Ehre, sei es der eigenen Person, sei es einer Gesamtheit, der man angehört, durch Worte und Taten anderer bzw. anderer Gesamt- heiten gibt es nicht. Macht und Habgier sollen wie in früheren Zeiten als verächtliche Laster behandelt werden, ebenso der Hass und die Streitsucht. Sowenig ich an der Überschätzung des Ver- gangenen leide, in diesem wichtigen Punkte sind wir leider nach meiner Ansicht nicht vorwärtsgekommen, sondern zurückgesun- ken. Jeder Wohlwollende sollte daran arbeiten, dass bei ihm selbst 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 Verbunden mit der sehr subjekti- ven Argumentation steht oft ein Appell , der eindringlich zum Handeln auffordert. Lesen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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