sprachreif HUM 3, Schulbuch

180 Albert Einstein: Meine Meinung über den Krieg Die psychologische Wurzel des Krie- ges liegt nach meiner Ansicht in einer biologisch begründeten ag- gressiven Eigenart des männlichen Geschöpfes. Wir „Herren der Schöpfung“ sind nicht die einzigen, welche sich dieses Kleinods rühmen dürfen; wir wer- 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 Am Beginn eines Essays steht meist eine Behauptung . Albert Einstein (1879−1955) Der zu untersuchende Gegen- stand des Essays wird in einen Zusammenhang gestellt. 2 4 6 8 den vielmehr in diesem Punkte von manchen Tieren, z. B. vom Stier und vom Hahn, noch erheblich übertroffen. Diese aggressive Tendenz macht sich überall geltend, wo einzelne Männer nebeneinander gestellt sind, noch viel mehr aber dann, wenn verhältnismäßig eng geschlossene Gesellschaften miteinan- der zu tun haben. Diese geraten miteinander fast unfehlbar in Streitigkeiten, die in Zank und gegenseitigen Mord ausarten, wenn nicht besondere Vorkehrungen getroffen sind, um solche Vorkommnisse zu verhüten. Ich werde nie vergessen, welch ehrlichen Hass meine gleichaltri- gen Schulgenossen gegen die Abc-Schützen einer in einer be- nachbarten Straße gelegenen Schule Jahre hindurch empfanden. Unzählige Raufereien fanden statt, bei denen es manches Loch in den Köpfen der Knirpse absetzte. Wer möchte zweifeln, dass Blut­ rache und Duellwesen diesem Gefühl entstammen? Ich meine sogar, dass die bei uns so sorgfältig gepflegte Ehre von ihm ihre Hauptnahrung erhält. Die neueren staatlichen Organisationen haben begreiflicherweise die Äußerungen der primitiven virilen Eigenart stark in den Hin- tergrund drängen müssen. Aber wo zwei Staatengebilde neben- einander liegen, die nicht einer übermächtigen Organisation an- gehören, schafft jenes Gefühl von Zeit zu Zeit in den Gemütern jene ungeheure Spannung, die zu den Kriegskatastrophen führt. Dabei halte ich die sogenannten Ziele und Ursachen der Kriege für ziemlich belanglos; sie finden sich stets, wenn die Leidenschaft ihrer bedarf. Die feinen Geister aller Zeiten waren darüber einig, dass der Krieg zu den ärgsten Feinden der menschlichen Entwicklung ge- hört, dass alles zu seiner Verhütung getan werden müsse. Ich bin auch trotz der unsagbar traurigen Verhältnisse der Gegenwart der Überzeugung, dass eine staatliche Organisation in Europa, welche europäische Kriege ebenso ausschließen wird wie jetzt das Deut- sche Reich einen Krieg zwischen Bayern und Württemberg, in nicht allzu ferner Zeit sich erreichen lassen wird. Kein Freund der geistigen Entwicklung sollte es versäumen, für dieses wichtigste politische Ziel der Gegenwart einzustehen. Der überwiegende Teil des Essays ist stark subjektiv gehalten und wirkt, als ob der Verfasser (die Verfasserin) laut denken würde. Zur anfänglichen Behauptung wird eine Vermutung gestellt, die im Verlauf des Textes erörtert wird. Die persönliche Ebene wird durch das Personalpronomen „ich“ betont. Lesen 6  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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