sprachreif HUM 3, Schulbuch

165 der. „Wo ich mich zu Hause fühle? Ganz ehrlich? Hier, in Berlin, mehr als jemals irgendwo an- ders.“ Sie zündet sich ihre Zigarette an. Natürlich vermisst sie Damaskus. Immerhin hat sie dort 28 Jahre ihres Lebens verbracht. Aber hier kann sie in Frieden schreiben und durch die Straßen spa- zieren, wie es ihr gefällt. „Die Menschen sind so offen. Viele kommen von woanders und suchen hier ihr Glück. Ich fühle mich nicht fremd.“ Seit über zwei Jahren lebt die syrische Schriftstel- lerin in Deutschland. Nach Beginn des Bürger- kriegs in Syrien übersiedelte sie zunächst nach Beirut, dann gewährte man ihr ein Schreib-Sti- pendium in Stuttgart. Als das Visum nach drei Monaten ablief, kam sie nach Berlin, um Asyl zu beantragen. Im Lageso 1 begegnete sie plötzlich hunderten an- derer Syrer. So viele Landsleute auf einem Fleck, das hatte sie nicht mehr erlebt, seitdem sie ihre Heimat verlassen hatte. In „Die Erfindung der deutschen Grammatik“, ihrem gerade erschiene- nen Kurzgeschichtenband, beschreibt sie die Si- tuation und wie Schuldgefühle sie überkamen, weil sie legal und bequem per Flugzeug einge- reist war. Es ist eine der wenigen Passagen im Buch, die etwas nach der Schwermut klingt, die man erwartet, wenn man als Deutsche das Buch einer Geflüchteten aufschlägt. Behördengänge stellt man sich am besten als Computerspiel vor „Wir Syrer sollen immer nur unser Leid klagen!“, empört sich die 31-Jährige. Deswegen sind ihre Geschichten über den deutschen Alltag vor al- lem eins: witzig. Wie zum Beispiel überlebt man Gänge auf deutsche Behörden? Indem man sich vorstellt, es sei ein Computerspiel. Und wie er- lernt man die deutsche Sprache? Gar nicht, denn zwei bösartige Barone haben die Grammatik so entworfen, dass Nicht-Muttersprachler mit ihr keinen Satz formen können. Rasha Abbas treibt all das Abwegige, dem sie begegnete, in ihren Ge- schichten noch tiefer ins Absurde. Komik als Survival-Strategie. Die Texte in „Adam Hates the Television“, ihrem Erstlingswerk, für das sie 2008 beim „Damascus Capital of Arab Culture Festival“ ausgezeichnet wurde, und in „The Gist of It“, ihrem zweiten Er- zählungsband, den sie in Stuttgart fertigstellte, waren dunkler, fragmentierter, überhaupt beun- ruhigender. Aber in finsteren Zeiten braucht es auch ein bisschen Leichtigkeit und Momente, in denen man wenigstens kurz vergessen kann. Deshalb entschied sie sich diesmal für ein komö- diantisches Buch. „Manchmal unterhalte ich mich mit Leuten, die keinen blassen Schimmer haben, was in Syrien vor sich geht. Das ist un- glaublich erleichternd. Dann kann man einfach von Mensch zu Mensch sprechen.“ Ein „Flüchtling“ zu sein, das heißt nämlich im- mer auch hilflos und abhängig zu sein. Die Er- fahrung, aus der Blase einer bürgerlichen, Da- maszener Tochter gerissen zu werden und sich als eine von vielen Geflüchteten zu fühlen – jen- seits aller gesellschaftlichen Unterschiede – sei für sie von unschätzbarem Wert gewesen, sagt sie. Aber sie wollte sich auch aus der Position des Opfers lösen. Inmitten der polarisierten Flüchtlingsdebatte entwickelt Abbas ihren Witz Genau das gelingt ihr, wenn ihre Erzählerin den Deutschen zum Dank einen Superhelden er- schaffen will, an dem Versuch aber scheitert. „Aber Jan, was hindert dich denn?“, ruft die Er- zählerin ihrer Skizze zu, als der Held bei einem Raubüberfall auf offener Straße nicht eingreift. „Er verschränkte die Arme fest vor der Brust und verweigerte jeglichen Kommentar. Bis die Ampel schließlich grün wurde. Inzwischen hatte sich die Bande längst aus dem Staub gemacht, und es gab nicht mehr viel für Jan zu tun, außer der Dame wieder aufzuhelfen und sie zur nächsten Polizeistation zu begleiten.“ Inmitten der derzeit völlig polarisierten öffentli- chen Debatte um die Integration von Flüchtlin- gen, in der ihnen – je nach Lagerzugehörigkeit – die stummen Rollen des traumatisierten Opfers oder des gefährlichen Eindringlings zugewiesen werden, erinnern Rasha Abbas’ Geschichten da- ran, dass von Menschen die Rede ist. Menschen, die in ihrer Jugend computerspielsüchtig waren, heimlich geraucht haben und deren gutes Recht es ist, Deutsche komisch zu finden. ImGespräch ist die Autorin herzlich, wenngleich ernster, als man es nach der Lektüre ihrer Anek- doten erwartet hätte. Geflüchtete nur als Last wahrzunehmen, so wie es aktuell oft geschieht, geht ihr gegen den Strich. „Integration muss ein Austausch sein. Wir können Deutschland auch 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 Reflexion Medien Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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