sprachreif HUM 3, Schulbuch

102 Friedrich Schiller: Kabale und Liebe (Er fliegt auf sie zu – sie sinkt entfärbt und matt auf einen Sessel – er bleibt vor ihr stehen – sie se- hen sich eine Zeitlang stillschweigend an. Pause.) Ferdinand. Du bist blass, Luise? Luise (steht auf und fällt ihm um den Hals) . Es ist nichts! nichts! Du bist ja da. Es ist vorüber. Ferdinand (ihre Hand nehmend und zumMunde führend) . Und liebt mich meine Luise noch? Mein Herz ist das gestrige, ist’s auch das deine noch? Ich fliege nur her, will sehen, ob du heiter bist, und geh’n und es auch sein – Du bist’s nicht. Luise. Doch, doch, mein Geliebter. Ferdinand. Rede mir Wahrheit. Du bist’s nicht. Ich schau durch deine Seele, wie durch das klare Wasser dieses Brillanten. (Zeigt auf seinen Ring.) Hier wirft sich kein Bläschen auf, das ich nicht merkte – kein Gedanke tritt in dies Angesicht, der mir entwischte. Was hast du? Geschwind! Weiß ich nur diesen Spiegel helle, so läuft keine Wolke über die Welt. Was bekümmert dich? Luise (sieht ihn eine Weile stumm und bedeutend an, dann mit Wehmut) . Ferdinand! Ferdinand! Dass du doch wüsstest, wie schön in dieser Spra­ che das bürgerliche Mädchen sich ausnimmt – Ferdinand. Was ist das? (Befremdet.) Mädchen! Höre! wie kommst du auf das? – Du bist meine Luise. Wer sagt dir, dass du noch etwas sein soll­ test? Siehst du, Falsche, auf welchem Kaltsinn ich dir begegnen muss. Wärest du ganz nur Lie­ be für mich, wann hättest du Zeit gehabt, eine Vergleichung zu machen? Wenn ich bei dir bin, zerschmilzt meine Vernunft in einen Blick – in einen Traum von dir, wenn ich weg bin, und du hast noch eine Klugheit neben deiner Liebe? – Schäme dich! Jeder Augenblick, den du an die­ sen Kummer verlorst, war deinem Jüngling ge­ stohlen. Luise (fasst seine Hand, indem sie den Kopf schüttelt) . Du willst mich einschläfern, Ferdi­ nand – willst meine Augen von diesem Abgrund hinweglocken, in den ich ganz gewiss stürzen muss. Ich seh’ in die Zukunft – die Stimme des Ruhms – deine Entwürfe – dein Vater – mein Nichts. (Erschrickt und lässt plötzlich seine Hand fahren.) Ferdinand! Ein Dolch über dir und mir! – Man trennt uns! Ferdinand. Trennt uns! (Er springt auf.) Woher bringst du diese Ahnung, Luise? Trennt uns? – Wer kann den Bund zweier Herzen lösen, oder die Töne eines Accords auseinander reißen? – Ich bin ein Edelmann – Lass doch sehen, ob mein Adelbrief älter ist, als der Riss zum unend­ lichen Weltall? oder mein Wappen gültiger, als die Handschrift des Himmels in Luisens Augen: dieses Weib ist für diesen Mann? – Ich bin des Präsidenten Sohn. Eben darum. Wer, als die Lie­ be, kann mir die Flüche versüßen, die mir der Landeswucher meines Vaters vermachen wird? Luise. O wie sehr fürcht’ ich ihn – diesen Vater! Ferdinand. Ich fürchte nichts – nichts – als die Grenzen deiner Liebe. Lass auch Hindernisse wie Gebirge zwischen uns treten, ich will sie für Treppen nehmen und drüber hin in Luisens Arme fliegen. Die Stürme des widrigen Schick­ sals sollen meine Empfindung emporblasen, Ge­ fahren werden meine Luise nur reizender ma­ chen. – Also nichts mehr von Furcht, meine Liebe. Ich selbst – ich will über dir wachen, wie der Zauberdrach’ über unterirdischem Golde – Mir vertraue dich! Du brauchst keinen Engel mehr – Ich will mich zwischen dich und das Schicksal werfen – empfangen für dich jede Wunde – auffassen für dich jeden Tropfen aus dem Becher der Freude – dir ihn bringen in die Schale der Liebe. (Sie zärtlich umfassend.) An diesem Arm soll meine Luise durchs Leben hüp­ fen; schöner, als er dich von sich ließ, soll der Himmel dich wieder haben und mit Verwunde­ rung eingesteh’n, dass nur die Liebe die letzte Hand an die Seelen legte – Luise (drückt ihn von sich, in großer Bewegung) . Nichts mehr! Ich bitte dich, schweig! – Wüsstest du – Lass mich – du weißt nicht, dass deine Hoffnungen mein Herz wie Furien anfallen. (Will fort.) Ferdinand (hält sie auf) . Luise? Wie! Was! Wel­ che Anwandlung? Luise. Ich hatte diese Träume vergessen und war glücklich – Jetzt! jetzt! von heut an – der Friede meines Lebens ist aus – Wilde Wünsche – ich weiß es – werden in meinem Busen rasen. – Geh – Gott vergebe dir’s – Du hast den Feuerbrand in mein junges, friedsames Herz geworfen, und er wird nimmer, nimmer gelöscht werden. (Sie stürzt hinaus. Er folgt ihr sprachlos nach.) QUELLE: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kabale-und-liebe-3317/2 ; (abgerufen am 30.07.2018, Rechtschreibung adaptiert) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 Reflexion Literatur 3  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=